Hündchen Jack (4) rast in einem Affentempo durchs heimische Wohnzimmer in Küsnacht ZH, Herrchen Thorsten Beige (54) schlittert auf Socken hinterher. Die beiden entlocken Katja Berlinger (50) ein herzhaftes Lachen – zu Thorstens Freude. Denn in letzter Zeit hat seine Frau öfters mal Tränen in den Augen. Und dies, wenn sie über ihr absolutes Herzensprojekt spricht.
Swiss Medi Kids ist die grösste Kinder-Notfall-Praxengruppe der Schweiz, 140 Mitarbeitende betreuen an den drei Standorten Zürich, Winterthur und Luzern 80'000 Kinder jährlich ambulant. Im Juli entschied das Bundesgericht, dass Walk-in-Praxen mit angestellten Ärztinnen und Ärzten für Einsätze am Abend und am Wochenende keine Notfall- und Dringlichkeitspauschalen berechnen dürfen. Zu diesen Zeiten finden bei Swiss Medi Kids aber über die Hälfte der Konsultationen statt. Ohne die Pauschalen fehlen Swiss Medi Kids 1,5 Millionen Franken in der Kasse.
Sparmassnahme auf Kosten der Kindergesundheit
Die Öffnungszeiten anpassen, die Löhne senken oder Menschen abweisen, welche die Pauschalen nicht tragen können, kommt für Berlinger nicht infrage. Eine einheitliche Lösung ist nicht in Sicht, obwohl sich alle einig sind, dass beim Mangel an Haus- und Kinderarztpraxen die Permanencen unverzichtbar sind. Bund, Kantone und Krankenkassen schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu.
«Ich verzweifle an der Bürokratie»
Katja Berlinger
Deshalb tut Katja Berlinger jetzt, was sie tun muss: Klinken putzen. Bei jeder einzelnen Krankenkasse. Manchmal mit Erfolg – die CSS und die Swica finanzieren das Angebot weiterhin –, manchmal nicht. «Im operativen Alltag werden wir überrannt, trotzdem sagen die Versicherer, sie finanzieren das nicht. An dieser Bürokratie verzweifle ich.»
Aufgeben kommt für Katja Berlinger nicht infrage. Denn Swiss Medi Kids ist für sie eine Berufung. «Hier fühle ich mich angekommen», sagt sie. Die Toggenburgerin studierte Jura, arbeitete als Anwältin, machte einen MBA, weiss aber immer: «Im Herzen bin ich Unternehmerin.»
Nach der Geburt der ersten Tochter – Tara ist heute 15, Nina 13 – macht sie sich selbstständig, nimmt Einsitz in verschiedenen Verwaltungsräten, unter anderem bei der Berner Insel Gruppe oder beim Möbelhaus Lipo. Thorsten Beige, studierter Ökonom, übernimmt den Haushalt und die Kindererziehung. «Weil ich das besser kann als meine Frau», meint er lässig. «Wenn ich daheim kochen und putzen würde, wären wir wohl längst geschieden – ich bin wirklich schlecht in beidem», meint Katja Berlinger lachend. «Aber im Ernst: Mein Mann verdient einen Orden. Ohne ihn würde ich das niemals alles schaffen.»
Ein einziges Paradox
Zu Swiss Medi Kids stiess Berlinger durch ein «Family Office», für das sie zu Beginn ihrer Selbstständigkeit im Mandatsverhältnis arbeitete. Die Beteiligungsgesellschaft investiert in das von einem Arzt gegründete Unternehmen. Sie überwacht anfangs diese Investitionen, nimmt dann Einsitz im Verwaltungsrat. Als der Gründer auswandert, ist für Katja klar, dass sie sich ganz für den Zugang zu einer vernünftigen Kinder- und Jugendmedizin einsetzen will.
Sie übernimmt 2019 zusammen mit Thorsten das Unternehmen von den bisherigen Eigentümern. «Mir haben Berufsberater immer gesagt, ich solle Ärztin werden. Aber ich würde das Leid der Patienten nicht ertragen», sagt Katja Berlinger. «Dass ich nun doch in diesem Umfeld gelandet bin, zeigt wohl meine Affinität zum Gesundheitswesen.» Jedenfalls habe sie sehr schnell das Gefühl gehabt: «Genau das ist es, was ich machen möchte.»
Während sie Swiss Medi Kids operativ leitet, ist auch Thorsten Beige im Unternehmen tätig, hilft überall wo nötig aus. Eine ihrer grössten Sorgen ist, dass ihre Mitarbeitenden wegen der unsicheren Lage um die Finanzierung der Versorgung von Kindern nicht nur Swiss Medi Kids, sondern die Gesundheitsbranche verlassen. «Denn diese Versorgung richten wir gerade zugrunde», sagt sie. «Aber ich vertraue darauf, dass wir eine Lösung finden, denn dies erfordert der gesunde Menschenverstand.»
Dass Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (60) in einem Interview mit dem Blick sagt, dass Angebote wie die Kinderpermanencen wichtig seien und ihnen so den Rücken stärken, mache sie stolz, sagt Katja Berlinger. Seit ihr Kampf in den Medien publik wurde, bekomme sie deutlich mehr Redezeit bei den einzelnen Versicherern. «Auch wenn es stets meine Intention war, auf öffentlichen Druck so lange wie möglich zu verzichten.»
Eigentlich habe sie gedacht, der Fall sei ein «No-Brainer», gesteht Berlinger: «Die Permanencen behandeln zur Hälfte des Preises, der im Spitalnotfall anfällt. Wir sind genau das Beispiel konsequenter Ambulantisierung, welche die Gesundheitsreform EFAS fordert. Das Krankenversicherungsgesetz verpflichtet Behörden und die Tarifpartner ausdrücklich, für einen kostengünstigen Zugang zur medizinischen Versorgung zu sorgen. Das System ist ein einziges Paradox.» So kämpft Katja Berlinger weiter. «Ich denke, wir sind auf gutem Weg.» Was, wenn sie es trotzdem nicht schafft, ihr Lebenswerk zu retten? «Das würde mir das Herz brechen.»