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Erziehungsexpertin Margrit Stamm

«Kinder leiden mehr unter dem Drama als unter der Maske»

Trend Homeschooling! Wegen Corona nehmen immer mehr Eltern ihre Kinder aus der Schule. Erziehungsexpertin Margrit Stamm sagt, was den Kindern beim Unterricht mit Mami und Papi entgeht – und was sie sich von den Eltern wünscht.

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Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin, SI 01/2022

Margrit Stamm, 71, ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften. Die gelernte Primarlehrerin machte als Mutter eine berufliche Pause. Mit 35 begann die Aargauerin dann ihr Studium.

Kurt Reichenbach

Frau Stamm, was ist schlimmer für ein Kind: mit Maske in die Schule müssen oder plötzlich nur noch vom Mami unterrichtet werden?
Als Erziehungswissenschaftlerin finde es problematisch, wenn Eltern ihre Kinder hauruck aus der Schule nehmen. Sei es, weil sie die Coronamassnahmen zu stark oder zu schwach finden.

Wieso?
Dieses plötzliche Umschwenken auf Homeschooling ist nicht pädagogisch motiviert, sondern hat ideologische, fast schon politische Gründe. 

Was passiert mit einer Familie, wenn Mami oder Papi plötzlich auch Lehrer sind? 
Das muss nicht immer ein Problem sein. Aber es kommt sehr darauf an, wie geeignet die Eltern dafür sind. 

Können Eltern das überhaupt? Oder scheitern sie an den Matheaufgaben der fünften Klasse?
Das ist die Frage. Und deshalb wird die Erlaubnis für Homeschooling in der Schweiz sehr unterschiedlich gehandhabt. In manchen Kantonen braucht man eine Lehrbefähigung. Es ist auf jeden Fall keine leichte Aufgabe, das eigene Kind zu unterrichten – wie viele Eltern während der Lockdowns deutlich gemerkt haben. 

Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kind?
Es entsteht eine neue Beziehung. Die Eltern müssen sich auf einem neuen Gebiet durchsetzen, das Kind anhalten und animieren. Und es gibt durchaus Familien, die das gut machen! 

Wo ist dann das Problem?
In der Regel sind das Familien, die ihr Homeschooling auch langfristig geplant haben. Wer jetzt aus einem Affekt und aus einer Angst heraus damit anfängt, unterschätzt die Folgen sehr wahrscheinlich. 

Für viele Eltern war die Maskenpflicht der Auslöser. In manchen Kantonen gilt sie bereits für Erstklässler. Wie schlimm ist die Maske für kleine Kinder? 
Ich bin keine Virologin, sondern Erziehungswissenschaftlerin. Und ja, als solche finde ich die Maskenpflicht befremdlich. Ich hätte als Mutter Mühe, wenn mein Erstklässler mit Maske in die Schule zottelt …

… aber? 
Trotzdem überwiegt für mich der Glaube an die Resilienz der Kinder. Sie sind widerstandsfähiger, als wir denken! 

Aber man liest überall, dass die psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen stark zunehmen. 
Ja, möglicherweise auch deshalb, weil diese Widerstandsfähigkeit kaum ein Erziehungsziel war.

Nochmals zur Maske: Sollen die Eltern diese Pflicht einfach hinnehmen?
Ich würde versuchen, mein Kind zu ermutigen: Wir probieren das jetzt! Denn Kinder leiden nicht unter den Masken. Sie leiden, wenn sie merken, dass ihre Eltern die Maskenpflicht als riesige Katastrophe und als grosses Drama sehen. 

Das sind Lebenskompetenzen!

Margrit Stamm

Besser so tun, als wäre alles nicht schlimm?
Eltern sollten versuchen, entspannter mit den neuen Umständen umzugehen. Ängstliche Eltern haben ängstliche Kinder. Resilienz hingegen ist das Immunsystem der Seele. Ich finde es seltsam, dass während der ganzen Pandemie so wenig über die Widerstandsfähigkeit unserer Kinder geredet wird. 

Man geht wohl davon aus, dass diese Zeit den Kindern auf jeden Fall schadet. 
Heute herrscht das Gefühl vor, Kinder seien unglaublich verletzlich. Doch das stimmt so nicht. Auch wenn Corona berechtigterweise vielen Menschen Angst macht, dürfen wir den Kindern nicht das Gefühl mitgeben, die Welt sei ein durch und durch gefährlicher Ort. Diese Botschaft hindert sie beim Weg zur Mündigkeit. 

Zeigt der Homeschooling-Trend, dass das Ansehen der Volksschule gelitten hat? 
Die Volksschule ist tief in der Schweizer Seele verankert. Sie ist aber auch die letzte Institution, die Integration – mehr oder weniger – gewährleistet. Ein Kind, das in die Volksschule geht, lernt, dass es verschiedene Familien und Erwachsene mit unterschiedlichen Meinungen gibt. Es wird vom Schulweg und vom Klassenleben geprägt.

Dabei kommt es aber auch zu Konflikten. 
Ja, es muss mit Kindern und Lehrern umgehen, auch wenn es mit denen nicht so «giiget». Das sind Lebenskompetenzen! Eltern, die Homeschooling machen, müssen sich gut überlegen, ob sie das bieten können. 

Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin, SI 01/2022

«In der Schule lernen Kinder, dass sie nicht immer kleine Könige sind»: Margrit Stamm im Treppenhaus ihres Büros in Aarau. 

Kurt Reichenbach

Nur weil Kinder im Homeschooling sind, heisst das ja nicht, dass sie nicht weiterhin mit anderen abmachen können, oder? 
Ja, und es gibt Eltern, die das sehr gut machen: die ihre Kinder in einen Sportverein oder in ein Lager schicken. Wichtig ist, dass die Eltern nicht ständig nur das Kind im Blick haben. In der Uno-Menschenrechtskonvention ist das Recht des Kindes auf Privatsphäre explizit formuliert. 

Und was heisst das? 
Ein Kind hat das Recht auf Geheimnisse und darf nicht konstant kontrolliert werden. Ich möchte die Homeschooler nicht in einen Topf werfen. Sie müssen sich einfach bewusst sein, was mit der Schule alles wegfällt: Auf dem Schulweg und in der Pause können Kinder unter sich sein. Sie spüren ja, wenn ihre Eltern ein Gspänli nicht mögen. Aber vielleicht möchte das Kind genau mit dem ein Glace essen. Diese kleinen Geheimnisse und Entscheide sind wichtig für die Identitätsbildung. 

Viele Eltern merken, dass ihr Kind sich ausser Haus anders verhält. Fällt diese «zweite Identität» beim Unterricht zu Hause weg?
Denken Sie an Ihre eigene Jugend zurück: Der Weg zur eigenen Identität passiert stark über das, was ausserhalb der Familie geschieht. In der Schule wurden Sie auch mal von anderen Kindern zurückgewiesen, erlebten, wie sich Freundschaften entwickeln. Dort lernen die Kinder auch, dass sie nicht immer kleine Könige sind. Und sie können sich beim Kiosk ein Schoggistängeli kaufen, ohne dass Mami es mitbekommt. 

Homeschooling heisst auch Unterricht mit den eigenen Geschwistern. Was bedeutet das? 
Es sorgt für eher starre Verhältnisse, denn die Rollen sind oft schon klar verteilt. In der Schule hingegen gibt es immer wieder Wechsel oder Probleme, die man dann im Klassenrat gemeinsam besprechen muss. 

Die wichtigste Lektion der Schule steht in keinem Lehrplan.

Margrit Stamm

In Zürich werden ja vor lauter Lehrermangel schon Leute ohne Ausbildung ins Klassenzimmer geholt. Verstehen Sie, dass man eine solche Schule als Eltern nicht mehr will?
Ich verstehe den Frust der Eltern gut. Ich denke aber, dass die Schulen sich bemühen, das Beste aus der Situation zu machen. Wenn Eltern nur die Bedürfnisse des eigenen Kindes sehen, werden ihre hohen Ansprüche wohl nicht erfüllt. Andererseits ist genau das eine Lebensschule. 

Oder einfach ein Mangel an Qualität. 
Ich finde, Eltern sind manchmal sehr streng mit der Schule und haben vor allem Rechnen, Lesen, Schreiben und gute Noten im Blick. Dann kommt halt für ein paar Wochen ein Künstler als Stellvertreter ins Klassenzimmer – der bildet die Kinder auf eine andere Weise. 

Ist der Trend zum Homeschooling typisch für unsere Zeit? 
Ich denke, ja. Es gibt eine Tendenz bei Eltern, alle Unterschiede zwischen Kindern für ein Problem zu halten. 

Wie meinen Sie das?
Viele haben Angst, dass ihr Kind von einem Gspänli aus einer anderen Schicht schlecht beeinflusst wird oder fremdsprachige Kinder die Klasse bremsen. Das ist doch ein Tunnelblick! Unsere Studien zeigen, dass die Erfahrungen eines Kindes mit anderen Milieus und Sprachen wichtig sind. Sie helfen ihnen, im Leben zu bestehen. Das steht zwar in keinem Lehrplan, ist aber die wichtigste Lektion der Schule: Die Kinder lernen andere Wirklichkeiten kennen. 

Eine Lehrerin erzählte mir, dass es in ihrer Klasse im Moment ständig um das Thema Freundschaft geht. Denn die Einstellungen der Eltern färben auf die Kleinen ab. 
Freundschaften sind ein wichtiger Schutzfaktor für die gesunde Entwicklung des Kindes. Deshalb sollte es seine Freunde auch selber wählen können, ohne dass die Eltern eingreifen. 

Gleichzeitig gibt es unter Eltern Knatsch: Freundschaften gehen auseinander, weil man sich bei Corona nicht einig ist. Soll man diese Konflikte vor den Kindern verbergen? 
Nein, es ist eine Gelegenheit, den Kindern Solidarität vorzuleben. Man kann sagen: Diese Familie hat bei dem Thema eine andere Meinung, aber wir akzeptieren das, und du darfst weiterhin mit ihnen abmachen. Und wenns einem wohler dabei ist, dann halt draussen. Aber wer seine Meinung dem Kind vorschreibt, der erzieht zu Intoleranz. 

Was raten Sie verunsicherten Eltern?
Vermittelt euren Kindern: Wir machen jetzt das Beste draus und versuchen, einen positiven Blick zu haben. Es stimmt, in der Schule lernen die meisten wegen der Pandemie wohl aktuell weniger – dafür aber tatsächlich mehr fürs Leben.

Lynn Scheurer von Schweizer Illustrierte
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Von Lynn Scheurer am 7. Januar 2022 - 18:02 Uhr