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Kinderkrebs Schweiz warnt

«Reform gefährdet die Behandlung von krebskranken Kindern»

Der Bund plant, die Krankenversicherungsverordnung zu reformieren. Die vorgesehenen Änderungen werden gemäss Fachpersonen jedoch den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten verschlechtern. Ein Kinderonkologe und ein betroffenes Elternpaar teilen ihre Einschätzungen und Erfahrungen.

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Kind, Kinderkrebs

Jährlich erkranken in der Schweiz rund 350 Kinder an Krebs (Symbolbild).

Getty Images

Jonas ist heute acht Jahre alt. Er geht gerne in die Schule, spielt mit seinen Geschwistern und treibt Sport. Was soweit normal klingt, ist für seine Eltern, die anonym bleiben möchten und ihrem Sohn für diesen Text deshalb einen anderen Namen gegeben haben, alles andere als selbstverständlich. Die letzten 3,5 Jahre bestanden für die Familie aus Hoffen und Bangen, aus kleinen Lichtblicken und vielen Rückschlägen.

Im August 2019 wurde bei Jonas eine akute lymphatische Leukämie (ALL) diagnostiziert. Ein Jahr lang musste er im Spital immer wieder mit einer intensiven intravenösen Chemotherapie behandelt werden. Anschliessend folgte eine einjährige Erhaltungstherapie – ebenfalls eine Chemotherapie, aber in Tablettenform. Dann schien die Krankheit besiegt: Pünktlich zum Schulstart im Sommer 2021 war Jonas fit genug für den neuen Lebensabschnitt. 

Rund neun Monate später zeigten sich an Jonas’ Körper jedoch wieder grosse blaue Flecken: Seine Blutkörperchen und -Plättchen wurden erneut nicht richtig gebildet. Er hatte einen Rückfall. Es folgten wieder eine Chemotherapie und – aufgrund der sehr seltenen Leukämieform (Philadelphia-Chromosom) – zusätzlich zwei Antikörper-Therapien, Ganzkörperbestrahlungen sowie eine Stammzellentransplantation. Wie bereits bei den vorherigen Behandlungen, musste Jonas zusätzlich Medikamente einnehmen, welche die Standard-Therapie für Leukämie ergänzten. 

Neue Medikamente sorgen für Diskussionen

Dass diese zusätzlichen Medikamente für ein Tauziehen mit der Krankenkasse sorgen würden, ahnten Jonas’ Eltern zu Beginn der Behandlung noch nicht. Sie waren damit beschäftigt, zu funktionieren – für Jonas und für seine beiden Geschwister. 

Jonas’ Ärztinnen und Ärzte setzten die innovativen Produkte nach Rücksprache mit internationalen Spezialisten ein. Nach den neuesten Erkenntnissen versprechen sie den grössten Erfolg. Allerdings sind sie nicht auf der Liste der zugelassenen Medikamente der Krankenkassen aufgeführt. Dafür sind sie schlicht zu neu und Jonas’ Leukämieform ist zu selten. 

Die Folge: Die Krankenkasse erteilte dem behandelnden Spital keine Kostengutsprache. «Wir sahen, dass es Jonas dank der ergänzenden Medikamente bedeutend besser ging, wussten aber nicht, wie lange er diese noch bekommen wird und wer am Ende die Kosten übernimmt», sagt Jonas’ Vater.

Eine extrem belastende Situation, mit der künftig nicht nur Eltern von krebskranken Kindern häufiger konfrontiert werden könnten, sondern auch erwachsene Patientinnen und Patienten.

Studien sollen Verbesserung nachweisen

Der Bund plant nämlich eine Reform der Krankenversicherungsverordnung. In dieser werden neu klinisch kontrollierte Studien vorausgesetzt, die aufzeigen, dass der Einsatz neuer Medikamente eine Verbesserung von mindestens 35 Prozent im Vergleich zu einer Standardarzneimitteltherapie oder einem Placebo aufweist. Nebst Kinderkrebs Schweiz lehnen diverse weitere Gesundheitsorganisationen die Reform aus unterschiedlichen Motiven ab.

Ein Grund dafür: In der Praxis ist die geforderte Verbesserung von 35 Prozent meist nicht belegbar. Erst recht nicht in der für die Betroffenen nützlichen Frist. Gerade Kinder leiden oft unter aggressiven und rasch fortschreitenden Krebsformen, die sofort behandelt werden müssen. Zu diesen fehlen jedoch besonders häufig Studien, welche den Nutzen von Therapien wissenschaftlich belegen. Der Dachverband Kinderkrebs Schweiz hat deshalb die Kampagne «Wenn die Kasse nicht zahlt» lanciert. 

Visual Kinderkrebs

Kinderkrebs Schweiz macht mit der Kampagne "Wenn die Kasse nicht zahlt" auf die Gefahren der geplanten Reform der Krankenversicherungsverordnung aufmerksam.

ZVG

Nicolas von der Weid, Abteilungsleiter Onkologie / Hämatologie am Universitätskinderspital beider Basel und Präsident von Kinderkrebs Schweiz sagt: «Müsste vor dem Einsatz eines neuen Medikamentes eine Verbesserung von 35 Prozent mit Studien belegt werden, würde das die Behandlung vieler Kinder gefährden.»

Mühsamer Weg bis zur Kostengutsprache

Ihm bereitet zudem die Aussage des Bundes Mühe, dass im Grunde keine Probleme bei Kostengutsprachen vorliegen und die von den Fachkräften vorgeschlagenen Behandlungen in fast 100 Prozent der Fälle von der Krankenkasse bewilligt und übernommen werden. «Das stimmt so nicht», sagt von der Weid. Und selbst wenn eine Kostengutsprache erfolgt, erhalte man sie oft erst nach mehrmaligen Nachfragen – «Das kostet Zeit und Geld». 

Vor allem bei Rezidiven komme es häufig zu Diskussionen, sagt Nicolas van der Weid. Und zwar bereits heute, ohne die zusätzlichen Hürden, welche die Reform vorsieht. «Meldet sich eine Krankheit nach einer Standard-Therapie zurück, müssen wir meist auf eine sogenannte Zweitlinien-Therapie setzen», erklärt der Kinderonkologe. Aufgrund der geringen Fallzahl gibt es jedoch meist keine Studienprotokolle, anhand derer die Wirksamkeit einer Therapie eindeutig nachgewiesen werden kann. 

Nicolas von der Weid

Nicolas von der Weid ist Abteilungsleiter Onkologie / Hämatologie am Universitätskinderspital beider Basel und Präsident von Kinderkrebs Schweiz.

ZVG

Das führt zum nächsten Problem: Obwohl die Behandlungen in komplexen Fällen von einem Expertenteam auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse empfohlen werden, lehnen die Versicherer eine Kostengutsprache gemäss Kinderkrebs Schweiz in 50 Prozent der Fälle erstmalig ab. Ein Grund dafür sei, dass die Vertrauensärzte selten bis nie auf Kinderonkologie spezialisierte Experten sind und es für sie deshalb schwierig ist, die Gesuche der Fachärztinnen und -Ärzte fachkundig zu beurteilen. Kinderkrebs Schweiz schlägt deshalb vor, den Vertrauensärzten der Krankenkasse ein Expertengremium zur Seite zu stellen. «Wir verstehen, dass Vertrauensärzte nicht in sämtlichen Bereichen des Gesundheitswesens à-jour sein können», sagt Nicolas von der Weid. Könnten sie sich aber auf die Meinung verschiedener Fachspezialisten stützen, würde das auf Seiten der Spitäler und der Krankenkassen Energie, Zeit und Geld sparen, ist Kinderkrebs Schweiz überzeugt. 

Für die Betroffenen ist im ersten Moment vor allem der Faktor Zeit entscheidend: «Sind Krankheiten fortschreitend, kann man mit der Behandlung nicht zuwarten, bis die Krankenkasse das Gesuch um Kostengutsprache geprüft hat», sagt von der Weid. Die Preise für die dringend benötigten Medikamente liegen jedoch rasch im sechsstelligen Bereich. «Für eine Familie ist es in der Regel unmöglich, sie alleine zu bezahlen», sagt Nicolas von der Weid. 

Deals mit Herstellern als Notlösung

Im Falle einer ungesicherten Finanzierung versuchen die Kinderonkologen mit den Herstellern einen Deal auszuhandeln. So wird etwa vereinbart, dass der Hersteller ein Medikament für drei Monate gratis aushändigt. Schlägt es an, übernimmt dann die Krankenkasse. Dennoch kommt es bei komplexen Fällen bei 20 Prozent und bei Standardtherapien bei 10 Prozent der Betroffenen zu einer endgültigen Ablehnung. Dann bleibt den Eltern nur noch übrig, auf eine Stiftung zu hoffen, die sie unterstützt, oder – wenn sie dazu in der Lage sind – die Therapie ihres Kindes selbst zu finanzieren. «Ethisch ist das nur schwer vertretbar», sagt Nicolas von der Weid. Die Suche nach Alternativlösungen dürfe nicht zu Lasten der Patientinnen und Patienten gehen. 

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) widerspricht: «Bereits heute ist für die Einzelfallvergütung ein erwartet grosser Nutzen Voraussetzung», sagt das Amt gegenüber der «NZZ am Sonntag». Die Revision führe vielmehr zu höherer Gleichbehandlung, weil nicht mehr jede Kasse für sich den Nutzen einer Therapie bewerte, sondern neu standardisierte «Nutzenbewertungsinstrumente» definiert würden. Heute bezahlten gewisse Versicherer alle beantragten Therapien, selbst Therapien ohne grossen Nutzen. Die Einzelfallvergütung sei aber nicht dafür da, «einfach jede Therapie zu jedem Preis zu vergüten», schreibt das BAG. «Die neue Verordnung wird Versicherer veranlassen, die Fälle auch wirklich einzeln zu prüfen.» Das Amt beteuert, man nehme alle Rückmeldungen sehr ernst. «Diese werden nun überprüft und können allenfalls zu Anpassungen führen.»

«Wir sind dankbar, dass Jonas gute Fortschritte macht»

Bei Jonas wurde nach langem Hin und Her eine Vereinbarung mit dem Medikamente-Hersteller und der Krankenkasse getroffen, in welcher eine Lösung der Kostenübernahme für die ersten Monate gefunden wurde. «Demnächst müssen die Ärzte jedoch ein erneutes Gesuch um Kostengutsprache einreichen, damit auch weitere Medikamente-Packungen bezahlt werden», erzählt Jonas’ Mutter. Gelingt es den Onkologen nicht, die Wirkung nachzuweisen, beginnen die Diskussionen von vorne.

Daran möchten sie und ihr Mann momentan gar nicht denken: «Wir sind dankbar, dass Jonas gute Fortschritte macht und die Blutwerte stabil sind», sagen beide. Jonas’ Eltern sind aber sicher: «Wir hätten heute noch viel grössere Probleme, wenn die geplante Reform vor drei Jahren eingeführt worden wäre.»

Von fei am 15. Februar 2023 - 07:00 Uhr