Célestin (1) wirft trockene Blätter in die Luft und freut sich, wenn der Wind sie umherwirbelt. Seine Schwester Madeleine (4) ist mit der Suche nach Steinen beschäftigt, um auf der Erde ein Muster auszulegen. Derweil pflückt Giorgos Palamaris (36) Maulbeeren vom Baum, der die idyllische Szenerie überdacht. Auf der Steinmauer, die ihm als Leiter dient, schneidet Lauriane Sallin (29) einen selbst gebackenen Kuchen auf. Ein Cake mit Olivenöl. «Ich hatte keine Butter mehr, und hier kann man nicht einfach einkaufen gehen, wenn etwas fehlt. Also löst man die Probleme kreativ», sagt die Miss Schweiz 2016.
Lauriane Sallin lebt mit ihrer Familie auf der griechischen Insel Tinos. Vor sechs Jahren lernt die damalige Archäologie-Studentin den gebürtigen Griechen und Kunstbildhauer Giorgos auf einer Ausgrabungsstätte kennen. «Wir fühlten schnell, dass wir das Leben miteinander verbringen wollen», erinnert er sich. Vor vier Jahren gibt sich das Paar am Greyerzersee das Jawort. Kurz danach kommt Madeleine zur Welt. Seither lebt die Familie einen Grossteil des Jahres auf Tinos.
Die Kykladeninsel liegt direkt neben der Party-Destination Mykonos, ist jedoch das pure Gegenteil davon. Der Mythologie zufolge ist Tinos die Heimat des Windgottes Aiolos, der Odysseus auf seiner langen Reise einen Schlauch voller Winde geschenkt haben soll, um die Segel seines Schiffs zu blähen. Tatsächlich wehen starke Böen über die kargen, von wilden Ziegen bewohnten Hügel. Damit sich das lange, ebenholzfarbene Haar ihrer Tochter im Wind nicht verknotet, hat es Lauriane Sallin zu festen Zöpfen geflochten.
«Hier gibt es kein Möbelhaus. Also stellen wir selber her, was wir benötigen.»
Lauriane Sallin, Miss Schweiz 2016
Tinos ist nicht nur für seine Winde, sondern auch für seinen einzigartigen grünen Marmor bekannt, der unter anderem die Westminster-Kathedrale in London schmückt. Für das typische weisse Kykladen-Häuschen mit den blauen Fensterläden, in dem die Familie lebt, wäre er eine Spur zu exquisit. In der Küche, die zugleich Wohnzimmer und Schlafraum ist, bildet eine Platte aus weissem Marmor die Arbeitsfläche. Giorgos hat sie gehauen. «Hier gibt es kein Möbelhaus. Also stellen wir selber her, was wir benötigen.» Als Unterbau dient eine alte Holztür. Der Mörser besteht aus Muschel und Stein, die perfekt ineinanderpassen. Drei verschmuste Hühner – Cocota, Carlota und Floretta – liefern Eier. «Weil sie frei leben, legen sie sie jeden Tag hinter einen anderen Stein. Manchmal finden wir sie nicht», sagt Lauriane und lacht.
Auf dem Balkon steht eine Singer-Nähmaschine mit Pedalantrieb. Damit hat Lauriane Sallin alle Babykleider genäht. «Ich schenkte sie meiner Frau, als wir noch keinen Strom und kein Warmwasser hatten», sagt Giorgos. Die tägliche Dusche mit Quellwasser aus dem Berg sei manchmal so kalt gewesen, dass die Seife nicht mehr schäumte und die Haare sich tagelang schmutzig und feucht anfühlten. «Da begriff ich: Warmwasser ist kein Luxus, es ist eine Notwendigkeit», erinnert sich Lauriane.
Die letzte eiskalte Dusche nahm sie am 10. Dezember 2019. Dann baute das Paar einen Boiler ein. Später kam der definitive Anschluss ans Stromnetz. Doch mit der Ressource gehen Lauriane und Giorgos sorgfältig um. Alle paar Monate schauen sie mit den Kindern auf dem Laptop einen Film. Dann kommt das Gerät wieder weg. «Unser wahrer Luxus ist die Zeit, die wir hier ohne die Ablenkungen der modernen Zivilisation miteinander verbringen dürfen», sagt Lauriane.
Die Schweiz fehle ihr, klar. «Vor allem der Tubensenf für mein Sandwich», sagt sie. Sie lässt ihn sich mitbringen, wenn Besuch kommt. Aber im Grossen und Ganzen ist sich das Elternpaar einig: «Glück hat für uns nichts mit Luxus zu tun.»
Das Leben im Hier und Jetzt bestimmt den Familienalltag. Wenn Lauriane Feuer macht, ist es, um Wärme zu erzeugen. Wenn es brennt, nutzt sie es zum Kochen. Der Tagesablauf dient dazu, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Essen, Wasser, Wärme, Sauberkeit und Nähe. Diese Sinnhaftigkeit jedes Handgriffs erfülle sie am einfachen Leben auf Tinos.
Als Schönheitskönigin bewegte sie sich in einer Welt voller Glamour. Daran erinnert sich Lauriane Sallin gern. Obwohl man als Miss oft mit dem Vorurteil «schön gleich dumm» konfrontiert sei, habe sie das Amtsjahr äusserst positiv erlebt. «Ich habe teilgenommen, weil ich meiner krebskranken grossen Schwester Gaëlle am Sterbebett versprochen hatte, unsere Werte in die Welt hinauszutragen.» Die Wahl habe ihr eine Plattform geboten, die jungen Frauen normalerweise nicht zur Verfügung stehe. Sie habe sie bestmöglich genutzt, sagt Lauriane.
Sie bat während ihres Amtsjahrs darum, ihre Bikini-Fotos, die zum Werbeauftrag einer Schönheitskönigin gehören, mögen nicht durch Retuschen verfälscht werden. Und anstatt für die Kinderherzstiftung Corelina als Botschafterin zu posieren, brachte sie sich tatkräftig ein. Von ihrem Elternhaus in Belfaux FR aus sammelte Lauriane medizinisches Material, das Schweizer Spitäler ausrangiert hatte, machte den Lastwagenführerschein und transportierte die Hilfsgüter nach Marokko in ein geplantes Kinderherzzentrum. Die Reportage dazu findet ihr unter diesem Link.
Auf Tinos gibt es weder ein Spital noch ein Einkaufszentrum. Aber Zeit, Platz zum Spielen in der Natur und frisches Quellwasser hat es im Überfluss. «Dóse tou éna potíri neró, se parakaló», ruft Lauriane ihrem Mann zu, als Célestin völlig eingestaubt aus seinem Blätterhaufen hervorkriecht. «Gibts du ihm bitte ein Glas Wasser?» Sie spricht mittlerweile fliessend Griechisch, Giorgos Französisch, die Kids einen Mix. «Unser Ziel ist es, den Kindern das Beste aus beiden Kulturen mitzugeben. Die griechische Leichtigkeit und die schweizerische Qualität.» Die Verbundenheit zu beiden Ländern zeigt sich auch in der Namensgebung: Madeleine Apollonia und Célestin Niréas tragen beide einen französischen Namen sowie einen Zweitnamen aus der griechischen Mythologie.
«Die Zeit auf Tinos hat mir den Blick für die Vorzüge meiner Heimat geöffnet.»
Lauriane Sallin
Die glücklichen Tage auf Tinos sind gezählt. In einem Jahr wird Madeleine eingeschult, dann müssen Lauriane und Giorgos entscheiden, welche Bildung sie ihren Kindern zukommen lassen wollen: Zur Auswahl stehen das «eher elitäre», von Privatschulen geprägte Schulsystem Athens, die ländliche Grundschule auf Tinos, in der verschiedene Altersstufen durchmischt sind, weil es zu wenige gleichaltrige Kinder gibt, oder das Schweizer Schulsystem. Doch für Letzteres müssten sie ihren jetzigen Lebensstil aufgeben. «Das wäre eine vorstellbare Wahl», sagt Lauriane. «Die Zeit auf Tinos hat mir den Blick für die Vorzüge meiner Heimat geöffnet: die hohe Bildungsqualität, die üppige Natur, die klaren Regeln schätze ich nun noch mehr.»
Das wenige Geld, das die Familie fürs Leben benötigt, könnte Giorgos als Steinbildhauer auch in der Schweiz verdienen. Lauriane will vorerst weiterhin zu Hause tätig bleiben – aus Überzeugung. «Mama zu sein, ist eine Vollzeitstelle. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, weil ich glaube, dass ein präsenter Elternteil, sei es die Mama oder der Papa, den wahren Luxus einer Kindheit darstellt.»
Langweilig wird ihr dabei nicht. «Die Welt aus der Perspektive meiner Kinder neu zu entdecken, befriedigt meinen Wissensdurst und meine Neugierde für den Moment ausreichend.»