Luzia Tschirky ist angekommen in ihrer neuen alten Heimat. Seit Oktober lebt die Journalistin wieder in der Schweiz, zusammen mit ihrem deutsch-russischen Mann Pavel und ihrer Tochter. Das neun Monate alte Baby schläft im Kinderwagen, den ihre Mutter entlang der Limmat schiebt. Schon mit 19 Jahren wusste die St. Gallerin aus Sargans, dass sie Russland-Korrespondentin werden will. In den letzten vier Jahren berichtete die «Reporterin des Jahres 2022» für das SRF aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Kurz nach Kriegsausbruch meldet sich Tschirky live aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew. In den darauffolgenden Monaten schildert sie in unzähligen Schaltungen und Beiträgen die Situation vor Ort. Sie läuft in Isjum im Wald durch ein Massengrab und berichtet über das Massaker von Butscha. Anfang September verkündet die 33-Jährige überraschend, dass sie ihren Posten aufgibt und sich eine Auszeit nimmt.
Luzia Tschirky, warum haben Sie Ihren Traumjob aufgegeben?
Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens. Ich habe Russland im Februar 2022 verlassen in der Absicht, nach ein paar Tagen zurückzukehren. Aber ich bekomme seit Juni 2022 keine neue Akkreditierung mehr ausgestellt. Damit sind Einsätze als Korrespondentin in Russland ausgeschlossen. Nach eineinhalb Jahren ausserhalb des Landes konnte ich mich nicht mehr mit gutem Gewissen Russland-Korrespondentin nennen.
Und warum berichten Sie nicht weiterhin aus der Ukraine und den umliegenden Ländern wie bisher?
Ich habe während des Mutterschaftsurlaubs beschlossen, meine Zeit in Russland in einem Buch zu verarbeiten. Meine Idee war ursprünglich, jeden Monat für zwei Wochen in die Ukraine zu reisen und parallel dazu an meinem Buch zu arbeiten. Dies hat sich während meiner ersten Reise nach dem Mutterschaftsurlaub im August als unrealistisch herausgestellt. Meine Arbeit aus der Ukraine wie vor dem Mutterschaftsurlaub fortzuführen, fühlte sich nicht richtig an. Ich hatte ständig einen «Rucksack aus Russland» dabei.
Wie meinen Sie das?
Ich habe festgestellt, dass ich noch nicht richtig begriffen hatte, was alles in den Jahren zuvor in meinem Leben passiert ist. In diesem Modus lässt es sich für einen Monat, für zwei, vielleicht für sechs Monate arbeiten, aber es ist nicht sinnvoll auf Dauer. Die Menschen in der Ukraine verdienen völlige Aufmerksamkeit, und in die Gespräche mit traumatisierten Menschen sollte ich nicht meine eigenen unverarbeiteten Erlebnisse hineintragen.
Welche Erinnerungen beschäftigen Sie besonders?
Viele meiner Erlebnisse kommen im Buch zur Sprache. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber vielleicht vorweg: Es geht zwar in erster Linie um meine Arbeit und die Begegnungen mit Menschen vor Ort, aber es geht auch um meine privaten Erlebnisse wie etwa meine Hochzeit in Russland.
Was bedeutet Ihnen das Buch?
Es ist extrem wichtig für mich. Ich merke erst beim Schreiben, wie viel seit 2019 passiert ist. Wie viele Freunde ihre Heimat verlassen mussten, wie viele Bekannte in der Zwischenzeit in Belarus oder in Russland im Gefängnis sitzen. Ich habe viel erlebt und gesehen – und ich habe mir nie die Zeit genommen, das aufzuarbeiten. Ich möchte nicht mit einem Bein in einem Leben stehen, in das ich nicht mehr zurückkehren kann. Ich will im Hier und Jetzt leben. Das ist wichtig für mich, für mein Kind und für meine Partnerschaft.
Ihr altes Zuhause in Moskau mussten Sie auflösen.
Ja, wir haben unsere Wohnung aus der Ferne auflösen lassen. Unsere persönlichen Sachen waren lange unterwegs. Als sie vor einigen Monaten endlich angekommen sind, ist mir mein Leben in Russland entgegengesprungen. In einer Kiste war noch Altglas, weil die Möbelpacker einfach alles eingeräumt haben. Es war völlig surreal für mich.
Vermissen Sie Ihr Leben als Korrespondentin?
«Korri» zu sein, war mein Herz und meine Seele. Ich empfand es immer als Privileg, dass ich einfach rumfahren und Fragen stellen durfte. Wer kann das schon? Ich sah in viele Lebenswelten, zu denen ich sonst keinen Zugang gehabt hätte, und konnte viel reisen. Mir fehlen auch meine Teammitglieder. Ich habe stark das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben. Aber ich kann es nicht ändern, auch wenn ich gern würde.
Was fehlt Ihnen nicht?
Nach Kriegsausbruch hatte ich während mehrerer Monate keinen Rückzugsort, sondern war ständig unterwegs. Wie streng das war, habe ich erst nach längerer Verzögerung festgestellt. Ich geniesse es sehr, jetzt wieder ein echtes Zuhause zu haben und ein Minimum an Stabilität.
Wie lange nehmen Sie sich nun diese Auszeit?
Mein Buch erscheint im ersten Quartal 2024. Ich plane, danach auf Buchtour zu gehen – wenn alles klappt. Die Idee ist dann, dass ich im Sommer wieder bei SRF einsteige. In welcher Funktion, ist aber noch nicht klar.
Was würden Sie gern machen?
Zum ersten Mal im Leben weiss ich das nicht. Früher wusste ich genau, dass ich Russland-Korrespondentin werden will. Deshalb habe ich mir auch nie überlegt, was danach kommen soll.
Sie haben vor einigen Jahren bereits in Zürich gelebt. Schauen Sie heute anders auf eine der lebenswertesten Städte der Welt?
Man kann sich alles nach Hause liefern lassen, früher konnte man höchstens eine Pizza bestellen. Aber noch mehr als die Stadt habe ich mich verändert.
Inwiefern?
Ich habe gelernt, Sachen zu schätzen. Zum Beispiel, dass ich sicher sein kann, dass Morgen und Übermorgen so aussehen wie heute. Das ist ein Privileg, und früher habe ich das nicht geschnallt. Die Lebensqualität in der Schweiz ist unglaublich. Die Strassen, die medizinische Versorgung – wir haben hier alles. Aber ich habe den Eindruck, dass viele Leute nicht verstehen, was für ein Glück es ist, in der Schweiz zu leben. Auch ich sah das früher nicht.
Auch als Sie schwanger waren, reisten Sie in die Ukraine. Der SI sagten Sie damals, Ihr Kind würde sicher von kämpferischer Natur sein. Ist Ihre Tochter eine Kämpferin?
Ich war wirklich auf alles gefasst (lacht). Im Moment ist es noch etwas zu früh, um zu sagen, ob sie eine Kämpferin ist. Aber sie bringt sehr viel Hoffnung in unser Leben, nachdem ich mich über längere Zeit hauptsächlich mit Tod und Verderben beschäftigt habe. Wir haben grosses Glück, dass wir ein so ruhiges und fröhliches Baby haben. Sie hat nach einem Monat schon durchgeschlafen. Ich bin mir bewusst, dass das überhaupt nicht selbstverständlich ist.
Was wünschen Sie Ihrer Tochter?
Für meine Tochter wünsche ich mir –so wie für uns alle – ein Leben in Frieden. Ich hoffe, dass mein Mann mit ihr seine Heimatstadt St. Petersburg besuchen kann, bevor sie volljährig ist. Aber solange Wladimir Putin in Russland an der Macht ist, wird er kaum einreisen können, ohne sich in Gefahr zu begeben. Unsere Freunde in der Ukraine können wir hoffentlich schon vorher als Familie besuchen. Ich bin optimistisch, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird, noch bevor unsere Tochter in den Kindergarten kommt.