Das Büro von Katja Rost (48) im Soziologischen Institut der Uni Zürich ist klein und karg. Ein niedriges Bücherregal und weisse Wände ohne Bilder. Darauf angesprochen, entgegnet Rost mit leicht ostdeutschem Einschlag: «Ich sag mal so: Wohnen tu ich zu Hause.» Die trockene Aussage passt zur Soziologieprofessorin, die den Ruf hat, immer direkt auf den Punkt zu kommen – so auch in diesem Gespräch.
Frau Rost, neue Studien zeigen einen Geschlechtergraben: Junge Männer werden rechter, junge Frauen linker. Was ist los?
Katja Rost: Wir beobachten in der Tat ein Auseinanderdriften der Geschlechter, und zwar nicht nur in politischen Belangen, sondern über alle Lebensbereiche hinweg. Das scheint ein Wohlstandsphänomen zu sein: Wohlstand ermöglicht Spielraum für individuelle Entfaltung.
Was bedeutet das konkret?
Frauen und Männer suchen sich zum Beispiel unterschiedliche Berufe aus, weil sie andere Wünsche und Bedürfnisse haben. Hinzu kommt, dass Mädchen in der Schule meist besser abschneiden als Jungs, sie sind in ihrer Entwicklung weiter, dazu aufmerksamer und stiller – hier spielen sowohl Gendernormen als auch die Biologie eine Rolle. Das Resultat ist, dass Frauen die grosse Auswahl haben, was sie beruflich machen wollen. Und die Männer nehmen oft die «Brotkrumen», die übrig bleiben.
Männer studieren häufiger angesehene MINT-Fächer wie Informatik oder Physik, sie arbeiten in Berufen, die besser bezahlt sind. Ist es da nicht verfehlt, von «Brotkrumen» zu sprechen?
Ich würde sagen, die Jungs fliehen in Bereiche, in denen sie kaum weibliche Konkurrenz haben. Die Schulnoten sind eindeutig: Mädchen sind in den MINT-Fächern genauso gut wie Jungs, aber Jungs sind schlechter in den künstlerischen und sprachlichen Fächern. Das Absurde an der Situation ist nun, dass die Mädchen sich trotzdem für die traditionelleren, sogenannt weiblichen Ausbildungen entscheiden.
Spüren Sie diesen Graben auch in Ihrem eigenen Umfeld?
Ich merke das vor allem bei meinem zehnjährigen Sohn: Er geht in eine Montessori-Schule, die sehr auf Genderneutralität achtet. Wir haben dort eine Studie durchgeführt und die Kinder gefragt, was sie später machen wollen, und es war so was von eindeutig: Die Mädchen was mit Menschen oder Tieren, die Jungs was mit Technik. Das ist verrückt, und trotzdem macht es für mich als Soziologin Sinn: Man kann die Kinder nicht aus der Gesellschaft herauslösen.
Wie gehen Sie damit um?
Wir versuchen zum Beispiel, unterschiedliche Hobbys vorzuschlagen, oder fragen unseren Sohn, warum er denn nicht mit Mädchen spielen will. Aber die haben sich eigentlich gar nichts mehr zu sagen: Die Mädchen singen und tanzen, die Jungs spielen Fussball und Computerspiele. Als Mutter oder Vater ist man da relativ machtlos.
Eine Erklärung dafür, dass sich junge Männer nach rechts bewegen, lautet, dass sie sich vom System diskriminiert fühlen. Können Sie das bestätigen?
Ja, und zwar sowohl als subjektives Gefühl als auch als objektive Tatsache. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass Männer heute bei der Jobsuche oftmals benachteiligt werden – sie werden seltener zu Einstellungsgesprächen eingeladen, werden bei gleicher Performance weniger eingestellt oder befördert. Heute wollen die Unternehmen Diversity, teilweise haben sie auch Quoten zu erfüllen. Zudem sind die jungen Frauen oft auch einfach besser. Das merken die jungen Männer natürlich.
Und das führt zu Frust.
Na klar. Die jungen Männer wachsen in einer Welt auf, in der Gleichberechtigung normal ist. Sie bekommen immer wieder zu hören, dass sie Vorteile haben und dass sie schuld daran sind, dass Frauen jahrhundertelang unterdrückt wurden. Selber erleben sie aber, dass Frauen die besseren Noten bekommen, häufiger gute Abschlüsse machen und manchmal auch bevorzugt werden. Das ist eine unglaubliche Diskrepanz.
Katja Rost
Die gebürtige Ostdeutsche ist seit 2012 ordentliche Professorin für Soziologie an der Uni Zürich. Katja Rost ist ausserdem Präsidentin der Gleichstellungskommission der Hochschule. Sie pendelt zwischen Zürich und Innsbruck, ist verheiratet und hat einen Sohn.
Dennoch: Für Feministinnen, die jahrzehntelang für Gleichstellung gekämpft haben, klingt der Begriff «Männerdiskriminierung» fast schon zynisch.
Ein Problem ist, dass oft mit Studien aus den 80er- bis 2000er-Jahren argumentiert wird, als Frauen tatsächlich noch diskriminiert wurden. Mittlerweile hat das Pendel aber in vielen, wenn auch nicht allen Bereichen in die andere Richtung ausgeschlagen. Die neuste Forschung ist da eindeutig. Und das kann auch die feministische Bewegung nicht wollen: Das Ziel kann nicht sein, lauter frustrierte, schlecht ausgebildete Männer zu produzieren.
Wie wirken sich die sozialen Medien auf den Geschlechtergraben aus?
Sie wirken als Verstärker: Vereinfacht gesagt kriegen die Jungs ihren Gaming-Content und finden gleichzeitig Identifikationsfiguren. Die sind teilweise hochproblematisch, weil sie etwa Gewalt verherrlichen oder Menschen abwerten. Aber sie bieten den Jungs ein starkes Vorbild, eine «positive» männliche Rolle, und stärken so ihr Selbstwertgefühl.
Und bei den Mädchen?
Wiederum lapidar gesprochen: Die Mädchen bekommen auf Social Media ihre Tanzvideos, es geht um Schminktipps und Frisuren. Ich beobachte auch, dass die jungen Frauen Dinge wie #MeToo verurteilen, sich aber gleichzeitig teilweise sehr sexualisiert auf Plattformen wie Instagram präsentieren. Das passt nicht zusammen.
Welche Folgen hat diese Entwicklung?
Das Resultat ist letztlich eine Polarisierung der Gesellschaft: Junge Frauen und Männer haben immer weniger miteinander zu tun, das gegenseitige Verständnis nimmt ab. Interessanterweise gab es ähnliche Tendenzen schon früher: Frauen gewichteten soziale Anliegen stärker, Männer dagegen wirtschaftliche Anliegen. Im gemischtgeschlechtlichen Freundeskreis oder in der Ehe hat man sich gegenseitig angenähert. Heute fehlen diese Aspekte, da Freundeskreise länger homogen bleiben und sich Beziehungen immer weiter nach hinten verlagern.
Ist Polarisierung immer schlecht? Man könnte auch argumentieren, dass eine Demokratie unterschiedliche Meinungen braucht – und dass starke Meinungen zu mehr Beteiligung führen.
Das stimmt. Aber es braucht trotzdem Orte, an denen wir als Gesellschaft zusammenkommen, seien das Beziehungen, Vereine oder der Beruf. Und diese Dinge existieren auch noch, wir müssen nicht den Teufel an die Wand malen. Die Frage ist, wie erhalten wir diese Orte?
Was ist Ihre Antwort?
Die Gleichstellungspolitik hat jahrelang als eine Art Ingenieur gewaltet und an verschiedenen Schrauben gedreht. So hat sie viel für die Frauen und Männer erreicht. Man muss aber immer schauen, wann die Situation kippt. Das Einfachste wäre jetzt, das Drehen und Schrauben einfach mal sein zu lassen und zu sehen, was die Gesellschaft damit macht.
Sie haben die Abgrenzung in der Schule angesprochen. Wie meinen Sie das?
Theoretisch könnte man die Jungs später einschulen, aber da wäre ich vorsichtig: Nicht alle Jungs sind hinterher. Ein weiteres Problem ist, dass auf Primarstufe fast nur Frauen unterrichten, da fehlen männliche Vorbilder. Doch auch hier: Wollen wir nun die Männer zwingen, Lehrer zu werden? Bei allen negativen Punkten sollten wir uns vor Augen führen, dass es etwas Gutes ist, dass wir uns überhaupt selber verwirklichen können. Damit haben wir ein grosses Ziel erreicht.
Sie sind in der DDR aufgewachsen, wo der Staat bestimmte, wer welche Ausbildung macht. Wie hat Sie das geprägt?
Meine besten Fächer waren Physik und Mathe, ich wäre garantiert in einem MINT-Studiengang gelandet, wenn es die Wende nicht gegeben hätte. So konnte ich Soziologie studieren, und darüber bin ich sehr froh. Ich würde mich deshalb immer für den liberaleren Weg entscheiden: Wenn wir sehen, dass Männer und Frauen unterschiedliche Wünsche haben, zum Beispiel in Bezug auf den Beruf, dann sollten wir das vielleicht einfach akzeptieren.V