Fröhliches Kindergelächter ist in einem Garten im idyllischen Familienquartier Schoren in St. Gallen zu hören. Iva, 4, und Milo, bald 3, stehen auf dem Rutschenturm und spielen Verkäuferlis mit ihren Eltern. «Wieviel kostet ein Liter Milch?», fragt Gaby Waespe, 38, ihren Sohn. «Hundert Meter!», ruft der Kleine, und streckt ihr erwartungsvoll die offene Hand entgegen. «Das ist aber teure Milch!», meint Papa Marco Schwinger, 40, und alle lachen.
Mit den Kindern im Garten herumzutollen, das liebt der Familienvater. Bewegung und Sport waren ihm schon immer wichtig. In jungen Jahren spielt er ambitioniert Badminton, später kommt seine Leidenschaft fürs Rennvelo und Laufen dazu, er absolviert mehrere Halbmarathons. Doch jetzt muss der Oberstufenlehrer alles etwas gemächlicher angehen. Denn er braucht seine Kraft, um gegen seine Krankheit zu kämpfen. Marco Schwinger hat Lymphdrüsenkrebs. Zweimal schon galt er als geheilt. Doch im Kontrolluntersuch im August entdecken die Ärzte eine Auffälligkeit. Nach drei nervenaufreibenden Wochen bekommt die Familie den Bescheid: Der Krebs ist zurück. Schon wieder.
Und diesmal präsentieren ihnen die Ärzte für den Fall, dass Plan A nicht klappt, nicht noch Plan B oder C, wie zu Beginn seiner Krankheit. Es gibt nur eine Chance, um Marco Schwinger noch mehrere Jahre mit seinen Liebsten zu ermöglichen: Chemotherapie und dann – dringend – eine Blutstammzellspende. Den passenden Spender oder die Spenderin müssen sie aber zuerst finden. Dafür ist Marco Schwinger darauf angewiesen, dass sich möglichst viele gesunde Menschen zwischen 18 und 40 Jahren auf www.blutstammzellspende.ch registrieren. Denn die Chance, dass die Gewebemerkmale von einem von ihnen in genügend hohem Masse übereinstimmen mit jenen von Marco Schwinger, beträgt jedesmal nur eins zu einer Million. Bis jetzt sind in der Schweiz aber nur knapp 160 000 Frauen und Männer registriert. Dabei ist die Entnahme der Blutstammzellen heute fast so einfach wie eine normale Blutspende! Doch das wissen viele nicht.
Deshalb unternehmen Marco Schwinger und Gaby Waespe nun alles, um möglichst viele Menschen dazu zu motivieren, sich zu registrieren (siehe Infobox). Nach der Registrierung dauert es zwei bis vier Monate bis zu einer möglichen Transplantation. Die Zeit drängt also. «Und es geht ja nicht nur um mich, sagt Marco Schwinger, «vielleicht findet sich dadurch auch ein passender Spender für ein kleines Kind mit Leukämie.»
Blutstammzellen zu spenden ist harmlos und fast so einfach wie eine normale Blutspende. Wer gesund ist und 18 bis 40 Jahre alt, kann sich registrieren und wird bei einer Übereinstimmung der Gewebemerkmale mit jenen einer Patientin oder eines Patienten, die zum Beispiel wie Marco Schwinger an Lymphdrüsenkrebs oder an Leukämie leiden, zu weiteren Abklärungen eingeladen. Die Spende erfolgt anonym, und ein Rückzug ist jederzeit möglich. Besonders gefragt sind übrigens Männer bis 30 Jahre – sie sind die besten Blutstammzellspender. www.blutstammzellspende.ch
In der Lounge neben dem Spielplatz erzählen er und seine Frau, sie ist ebenfalls Lehrerin, von seiner Krankengeschichte. Wie alles begann vor vier Jahren, als ihn seine Haut immer häufiger juckt. Das sei normal in seinem Alter, meint seine Hausärztin, und gibt ihm eine Salbe. Wie er dann im Skilager über einen stechenden Schmerz in der Brust klagt. Wie er irgendwann unter so starkem Nachtschweiss leidet, dass er jede Nacht drei «pflotschnasse» Shirts auswringt. Und wie er immer mehr Hunger hat, drei Teller Zmittag essen kann – und die Waage trotzdem immer weniger Kilos anzeigt. Zudem steigt sein Puls, irgendwann hat er einen Ruhepuls von 100, kann nicht mehr schlafen. Da schickt ihn seine Hausärztin von der Praxis direkt ins Spital.
Ein Ultraschall bringt die Wahrheit ans Licht: Da ist ein Tumor in seinem Brustkasten, mit einer Grösse von 18 Zentimetern so gross wie ein Handball, er hat Lunge und Herz verschoben, das Herz hat sich bereits entzündet. Wie um Himmels Willen war es möglich, dass acht Monate lang kein Arzt merken konnte, dass dieser Tumor alle seine Leiden verursacht hat? «Das Problem war, dass der Tumor unantastbar hinter den Rippen verborgen lag», sagt seine Frau. Es ist Mai 2017, als die Diagnose feststeht. Sie ist damals im vierten Monat schwanger mit dem kleinen Milo.
Nach dem ersten Schock fangt sich das Paar bald auf, auch dank der Mediziner, die ihnen Mut machen: Diese Art von Krebs sei gut heilbar, und sie legen los mit Chemotherapie und Bestrahlung. Und tatsächlich: Die Behandlung ist erfolgreich. Ebenso jene nach dem ersten Rückfall ein halbes Jahr später. Im November 2019 machen sie ein grosses Fest mit Familie und Freunden, um seinen 40. Geburtstag und vor allem den Sieg über den Krebs zu feiern.
Doch jetzt ist der Krebs also zurück. Bis Ende November bekommt Marco Schwinger im Kantonsspital St. Gallen die Infusionen seiner Chemotherapie, zwischen Mitte Dezember bis Januar sollten ihm dann die fremden Blutstammzellen transplantiert werden. Falls sie keinen Spender finden, müsste er stattdessen eine Immuntherapie machen. «Die wollen wir aber eigentlich lieber noch aufsparen», sagt Marco Schwinger. «Für den Fall, dass der Krebs nochmals zurückkommt.»
Marco Schwinger und seine Frau erzählen das alles überraschend ruhig und abgeklärt. Doch natürlich seien sie nicht immer so zuversichtlich. Manchmal wollen sie weinen, schreien, fluchen. «Was soll die verdammte Scheisse? Was müssen wir noch tun?», fragt sich Marco Schwinger dann. Er schaut zu seinen spielenden Kindern. «Was ist, wenn ich ihn nicht zum Sport begleiten kann, sie nicht heiraten sehe? Ich bin erst 40!»
Aber man könne nicht immer einfach alle Emotionen rauslassen, sagt Gaby Waespe. Sie ist überzeugt, die Krankheit ihres Mannes muss einen Sinn haben. «Aus irgend einem Grund hat es uns getroffen, und wenn nur, damit wir den Moment mehr geniessen, oder dass wir sehen, wie viele gute Menschen wir in unserem Umfeld haben, oder damit wir wissen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir alle miteinander hier sein dürfen.»
Auch die Kinder sind manchmal traurig, wollen wissen, warum Papi so viel im Spital ist, warum er keine Haare mehr hat. Büchlein wie Der «Chemo-Kasper» oder der «Radio-Robby» von der Kinderkrebshilfe erleichtern es den Eltern, den Kleinen die Krankheit zu erklären. «Wir sagen ihnen jeweils, dass es okay ist, auch mal traurig zu sein», sagt Gaby Waespe. Falls es den Kindern mal schwer fällt, ihre Gefühle auszudrücken, helfen ihnen die Karten des gleichnamigen Kinderbuchs «Heute bin ich» der niederländischen Illustratorin und Grafikerin Mies van Hout. Jeder ihrer Fische in leuchtenden Farben drückt ein anderes Gefühl aus.
Den Eltern selbst hilft in dieser schweren Zeit der Glaube daran, dass es gut kommt. Ebenso die Unterstützung ihres Umfelds. «Wir wissen nicht, wo wir in einem Jahr stehen. Hoffentlich sind wir gesund.»
Denn der kleine Milo will seinem Papa noch ganz viel Milch zum Meterpreis verkaufen.
Läuft es wie früher im Badminton, ist Marco Schwinger der Sieg sicher. «Wenn ein Match länger dauerte, war ich mit meiner Ausdauer jeweils im Vorteil», sagt er. «Die dritten Sätze waren immer meine Stärke.»