Leise rieselt der Schnee. Schon von Weitem schimmert der Baumstamm durchs Geäst. Er ist in Kupfer verpackt. Die Szenerie hat etwas Spirituelles. Schöner hätte sich Michel Comte (70) den Besuch der Lichtung oberhalb von Dietikon nicht vorstellen können. «Clearings» heisst sein Projekt. Die einzelnen Installationen sind an zwölf Standorten zu finden und bis Dezember 2025 zu entdecken.
«Die Kupferhülle dient als Leiter. Jeder Baum ist der Witterung ausgesetzt. Er wird sich im Lauf der Zeit verändern – eine Reinigung findet statt. Unter der Oberfläche entfalten sich leise Energieströme, die Einfluss auf die Gesundheit des Waldes und die verborgenen Kreisläufe des Lebens haben.»
Mit der Transformation will Michel Comte ein Bewusstsein für den Schutz der Wälder schaffen. Seit seiner Kindheit streift der Frühaufsteher täglich durch das Unterholz. Er liebt es, Bäume zu umarmen. Dabei schaut er ganz genau hin: «Die Säuberung des Waldes von invasiven Pflanzen war lange gängige Praxis. Doch heute wird dies aus Kostengründen häufig vernachlässigt.» Die Folgen: Parasiten, Ungeziefer und Zecken breiten sich aus. Der Wald «verslumt», er kann sich nicht mehr regenerieren.
«Die Natur ist für mich eine Energiequelle.Dasselbe trifft auchauf die Liebe zu»
Michel Comte
Unterstützt wurde er bei der Aktion durch Kurator Christoph Doswald vom Limmattaler Verein Art Flow. Mitbeteiligt waren die Holzkorporation Dietikon, der Architekt Yuichi Kodai und die Oberstufenklasse R3a der Neuenhofer Schule. Die Jugendlichen waren aktiv in die Umsetzung eingebunden. Sie halfen bei der Reinigung des Bodens und der Bäume sowie beim Einhüllen in dünne Kupferfolie mit. «Clearings» steht auch für Neubeginn.
Sohn stirbt nach 20 Jahren Krankheit
Denn Michel Comte hat eine schwere Zeit hinter sich. Am 18. Oktober starb sein Sohn Brandon Oliver Comte. Der Künstler und Kraftsportler wurde nur 30 Jahre alt.
Zwanzig Jahre kämpfte er gegen eine unheilbare Krankheit, die ihm das Schlucken verunmöglichte. Zuletzt wurde er künstlich ernährt, konnte die Intensivstation des Universitätsspitals Zürich nicht mehr verlassen.
Kämpfer mit grossem Herzen
Comte besuchte seinen Sohn, der aus der Ehe mit Fotomodell Dominique Kamber stammt, täglich bis zu drei Mal. «Brandon hat sich bis zum letzten Atemzug klar artikuliert. Er war stark, mutig, mitfühlend und sehr intelligent. Sein IQ lag bei 200, was er sicher nicht von mir geerbt hat», sagt er scherzend. Die Abdankung fand im Grossmünster statt. Pfarrer Martin Rüsch hielt die Trauerrede. «Er führte einen fiktiven Dialog mit Brandon. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Unser Sohn einte mit seinem herzlichen Wesen Familie und Freunde aus aller Welt. Er wünschte sich zum Abschied die Goldberg-Variationen und den Song ‹A Love Supreme› von John Coltrane. Alles war berührend und sehr bescheiden.»
Wer schon einmal den Verlust eines geliebten Menschen erlitten hat, kennt den Schmerz, der über einen hereinbricht. Das Gefühl, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein. Was für viele das Schlimmste ist: die Endgültigkeit. Zu wissen, dass die Person niemals wieder zurückkommt. Jeder geht mit der Trauer anders um, sucht seinen eigenen Weg aus ihr heraus. Michel Comte kämpft kurz mit den Tränen, sagt dann gefasst: «Wenn ich nicht Künstler wäre, hätte ich diesen Schicksalsschlag nicht überlebt. Die Kunst hat mich gerettet.»
Bei «seinen Bäumen» in Dietikon hat er sich die letzten Wochen und Monate einen Zufluchtsort erschaffen. «Die Arbeit gab mir Halt und Kraft. In der japanischen Tradition sind Waldlichtungen heilige Stätten. Diese Demut vor dem Einfachen gefällt mir.»
«Ich bin selektiver geworden, mache nicht mehr jedem einen Gefallen»
Michel Comte
Seit 2008 ist er in zweiter Ehe mit Ayako Yoshida verheiratet. Er liebt das Land und seine Kultur, den Minimalismus, das Puristische. Dass man sich für die Essenz der Dinge interessiert. Reichtum und Ruhm haben Comtes früheres Leben geprägt. Models, Musiker, Schauspieler auf der ganzen Welt rissen sich um den Magier mit der Kamera, wollten sich von ihm in die Seele blicken lassen.
Abrupter Abschied aus dem Jetset
Viele seiner Ikonenbilder sind berühmter als er selbst. Wie der Schnappschuss von Sophia Loren im Leopardenmantel, Miles Davis, der seine Trompete wie ein Baby an sich drückt, Sylvester Stallone mit Rosenblättern auf den Augen, Boxlegende Mike Tyson mit weisser Taube in der Hand. Oder die nackte Carla Bruni, deren Bild 15 Jahre nach der Entstehung 91 000 Franken brachte, weil das Model inzwischen als Première Dame von Frankreich für Furore sorgte. Zwölf Jahre lang war er auch als Reporter in Krisen- und Kriegsgebieten tätig. «Ich habe viel Leid, Trauer, Terror, Krieg und Tod gesehen», sagt der Star, der keiner sein will. Sein Leben als Fotograf änderte sich schlagartig aufgrund eines schweren Unfalls in Los Angeles. «Ich lief Gefahr, mein Augenlicht zu verlieren. Kamera und Karriere hängte ich an den Nagel. Meine Erfüllung habe ich in der Kunst gefunden.»
Michel Comte spricht besonnen und ist auf eine angenehme Art rastlos. Im Februar feierte er seinen 70. Geburtstag. Und wieder holt ihn das Wort Clearings ein. Bereinigung. «Ich habe mich oft gefragt, ob ich meine Zeit und meine Gedanken für die richtige Sache eingesetzt habe. Ich bin selektiver und vorsichtiger geworden, mache nicht mehr jedem einen Gefallen.» Michel Comte ist gerade dabei, ein Buch über Brandon zusammenzustellen. «Ich werde sein Tagebuch vervollständigen. Er war eine Künstlerseele, hat gezeichnet und gemalt und grossartige Texte hinterlassen. Sein Lebensmotto lautete: ‹All I want is peace›. Frieden. Wünschen wir uns das nicht alle? It's so simple.»
«Clearings», zu besichtigen im Limmattaler Wald, bis Dezember 2025, art-flow.ch