Wenn das kein schönes, sorgloses Leben ist! Bis es am Abend etwas abkühlt, hat Nino Schurter, 33, trainingsfrei. Noch ist erst Mitte Vormittag, doch bereits zeigt das Thermometer weit über 30 Grad. Zu heiss, um auf dem Mountainbike über Stock und Stein zu jagen.
Hier oben in den Weinbergen über Stellenbosch, Südafrika, geht wenigstens ein Lüftchen. Töchterchen Lisa, 3, turnt draussen auf dem Klettergerüst rum. Nino streicht schon mal ein Konfibrot für die Kleine, Ehefrau Nina, 33, rührt frische Früchte ins Müesli. Familienfrühstück im Restaurant des Tokara-Weinguts. Idylle, Vertrautheit, Erholung.
Wer bei Olympia Gold, Silber und Bronze geholt hat, achtmal Weltmeister geworden ist, siebenmal den Gesamtweltcup und 31 Einzelrennen gewonnen hat, darf gewiss auch im harten Trainingscamp das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.
Hier am Kap besitzen die Schurters seit vier Jahren eine Wohnung. Die winterliche Saisonvorbereitung bei sommerlichen Verhältnissen gehört längst fest in die Agenda des erfolgreichsten Mountainbikers der Gegenwart.
So viel Ruhm, so viel materielle Sicherheit, so viel Glück! Selbst in Zeiten von Corona fragt sich: Was will man mehr? Nino Schurter wüsste sehr wohl eine Antwort. Nur ist er kein Mensch, der klagt und im Konjunktiv lebt.
Und so spricht er nicht aus, was auf der Hand läge: den Wunsch, seine Ehefrau Nina, die Jugendliebe aus der gemeinsamen Schulzeit in Ilanz GR, mit der er seit 2014 verheiratet ist, möge wieder gesund werden. Denn das ist die andere Lebensrealität der Schurters: Nina leidet an der autoimmunen Erkrankung des Nervensystems Encephalomyelitis disseminata. Besser bekannt als Multiple Sklerose (MS).
Nina, diese lebenslustige Frau des erfolgsverwöhnten Sportstars. Diese Bündnerin mit der ruhigen, freundlichen Art. Die sportlich ist und früher auch gerne mal für eine Ausfahrt aufs Bike steigt. So wie damals, als die Arztsekretärin am Spital in Chur arbeitet.
Doch in jenem Jahr 2008 stimmt etwas nicht: Sie leidet immer wieder unter unerklärlichen Schwindelanfällen. Ihr Chef rät zum genaueren Untersuch. Und als sie MRI und Lumbalpunktion hinter sich hat, eine Nervenwasser-Entnahme, steht die brutale Diagnose fest: Nina hat MS.
Ein unglaublicher Schock, auch wenn die Krankheit in ihrer Verwandtschaft früher schon aufgetreten ist. Gerade einmal 22 Jahre alt ist sie!
Sogleich beginnt Nina eine Behandlung mit Cortison – und spricht darauf an. Die Symptome schwächen sich ab. «Mit der medikamentösen Behandlung hatten wir die Krankheit die folgenden Jahre recht gut im Griff», erzählt Nina Schurter.
So zuversichtlich ist das Paar, dass Nino auch in dieser Zeit einen sportlichen Grosserfolg an den anderen reiht. Und so spricht letztlich auch wenig dagegen, dass sich die Schurters ihren Kinderwunsch erfüllen.
«Es gab zwar Ärzte, die waren skeptisch», sagt Nino, «aber es gab auch die Sichtweise, dass eine Schwangerschaft den Organismus erneuern und stärken würde.» Nina wird schwanger und bringt im Oktober 2016 Tochter Lisa Sophia zur Welt. Das Glück ist vollkommen.
Doch es ist nur ein vorübergehender Stillstand der Krankheit. Die Medikamente müssen abgesetzt werden, weil nach Jahren der Anwendung die Gefahr einer Hirnhautentzündung wächst. Bald verstärken sich die Symptome. Sehstörungen treten auf, der linke Arm und das linke Bein versagen ihren Dienst, Sprechen wird schwierig. Mehrwöchige Reha-Aufenthalte in Valens SG helfen, mit der Krankheit zu leben.
Nino Schurter: «Ich übernehme einfach ein paar Mami-Funktionen. Das ist nur selbstverständlich.»
Auch Nino hilft: Wenn andere Profisportler nach Training und Wettkampf zu Hause entkräftet die Beine hochlagern, geht der Olympiaheld in die Waschküche, besucht mit Lisa den Spielplatz, steht am Kochherd. Nina behält viel von ihrer Selbstständigkeit, doch nicht mehr alles geht. Will sie etwa Gemüse rüsten oder einen Reissverschluss am Kleid schliessen, muss ihr Mann zu Hilfe eilen.
«Lisa ist in dieser Situation ein Segen für uns mit ihrer Unbeschwertheit und der Art, wie sie Ninas Krankheit ohne grosses Aufhebens akzeptiert», sagt Nino. «Ich übernehme einfach ein paar Mami-Funktionen. Das ist nur selbstverständlich.» Und Nina attestiert ihrem Mann perfektes Einfühlungsvermögen: «Mit seiner positiven, immer optimistischen Art war und ist er für mich die beste Stütze, die ich mir wünschen kann.»
Im Video seht ihr, wie toll sich Lisa bereits mit drei Jahren als Bikerin macht:
Bike-Star Nino Schurter und seine Lisa geben Vollgas
Dass Ninas Eltern Cornelia und Reto drei- bis viermal wöchentlich aus Sagogn GR ins Haus der Schurters nach Chur kommen, um Nina zu unterstützen, wenn Nino für Training oder Wettkampf unterwegs ist, federt die Schwierigkeiten ebenfalls ab. Und auch auf die Hilfe von Ninos Eltern Franzisca und Ernst darf die Familie zählen.
Und dann keimt 2018 weitere Hoffnung auf. Durch einen Beitrag im Fernsehen werden Nina und Nino auf eine neuartige Stammzellentherapie zur Behandlung von MS aufmerksam. Bei der autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation werden den Patienten in einer siebenwöchigen Behandlung zuerst Blutstammzellen entnommen und eingefroren.
Danach werden die körpereigenen Immunzellen mittels hoch dosierter Chemotherapie abgetötet. Dann werden die eigenen Blutstammzellen wieder zugeführt, und der Körper setzt das Immunsystem quasi neu auf. Es ist noch keine zugelassene Therapie, doch Nina hat das Glück, dass sie die Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Registerstudie am Unispital Zürich erfüllt.
Nina Schurter: «Ich bin wieder ein Kleinkind, mit meinem völlig neuen Immunsystem. »
Sie tritt die riskante Behandlung an – und steht sie durch. Die bekannten Nebenwirkungen einer Chemotherapie muss sie zwar erdulden, doch als sie nach Hause zurückkehrt, ist sie voller Zuversicht. Und sagt heute: «Man rechnet mit mindestens einem Jahr, ehe das Immunsystem wieder funktioniert. Ich bin mich noch immer am Erholen.»
Gut ist: Die regelmässigen Kontrollen im MRI haben bis heute stets positive Resultate gezeitigt. Und das junge Mami siehts auch schon mit einem gewissen Humor: «Eigentlich bin ich wieder ein Kleinkind, mit meinem völlig neuen Immunsystem. Ich muss auch noch diverse Kinder-Impfungen nachholen.»
Nina benötigt zurzeit keine Medikamente mehr. Es geht ihr so gut, dass selbst durch die Corona-Pandemie bei den Schurters keine Panik aufkommt: «Klar bereitet uns ihre Gefährdung als Risikogruppen-Angehörige Sorgen. Aber wir schützen sie durch konsequente Abschottung der ganzen Familie in unserem Haus in Chur vor Infektionen aller Art», sagt Nino.
Und als er vor Kurzem ein paar Wochen nach Nina und Lisa aus Südafrika heimgekehrt war, begab er sich fünf Tage in Selbstisolation, um ein Risiko für seine Frau auszuschliessen. «Auch unsere Nachbarn sind in dieser Situation unglaublich hilfsbereit.»
Nina Schurter: «Meine Krankheit in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, kostete mich schon Überwindung.»
Der medizinische Aspekt ist indessen nur das eine. Dazu kommt die soziale Komponente. Die Schurters sind froh, dass nun allfällige Spekulationen um den Gesundheitszustand von Nina obsolet sind. «Auch wenn wir nie ein Versteckspiel betrieben haben», sagt Nino, «so ist es für Nina doch eine Erleichterung, dass nun Klarheit herrscht.» Und seine Frau sagt: «Ich hatte nie Mühe damit, dass man in unserem Umfeld Bescheid wusste. Doch meine Krankheit in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, kostete mich schon Überwindung.»
Zweimal wöchentlich macht Nina nun Physiotherapie, zweimal Krafttraining und einmal Ergotherapie. Und Lisa wird den Alltag ihres Mamis auch weiterhin aufhellen, wenn sie ab dem Sommer in den Kindergarten geht. «Sie ist unser Sonnenschein», sagt Nino.
Dass der Olympiasieger und seine starke Frau natürlich auch auf neue Medikamente hoffen, die die Krankheit MS nicht nur zum Stillstand bringen, sondern sogar Schädigungen zurückbilden könnten, ist nachvollziehbar. Doch egal, ob und wann dies der Fall sein wird: Diese Familie hat nicht nur auf dem Bike das Sieger-Gen.