«Frau Zweifel, ich habe eine Idee!» Diesen Satz hört Zirkuslehrerin Andrea Zweifel oft, denn Maycol Knie junior (6) gehen die Ideen nicht so schnell aus. Kürzlich fand er heraus, dass der Name seines Grossvaters Fredy Knie junior (77) mit einem F beginnt. Da hatte er die Idee, Opas Foto als Eselsbrücke aufs Buchstaben-Übungsblatt zu kleben.
Und jetzt ist ihm aufgefallen, dass er die Setzlinge im Garten der Zirkusschule nur schwer unterscheiden kann. «Ich könnte die Töpfe beschriften, Frau Zweifel!» Schreiben kann er schon. Seit vergangenem Sommer besucht «Maycolino», der jüngste Sohn von Géraldine Knie (51) und Maycol Errani (39) die erste Klasse der zirkuseigenen Schule. «Schon am ersten Tag wollte er Hausaufgaben mitnehmen», sagt seine Lehrerin. Fünf Hefte und zwei Ordner hat der Kleine seither mit Hausaufgaben gefüllt. «Jede einzelne davon freiwillig. Ich hatte wohl selten einen so engagierten Schüler.» Zweifel drückt ihrem Schützling einen Stift in die Hand und buchstabiert «T-O-M-A-T-E».
Die Schule ist im Zirkuswagen 48 untergebracht, einem schmucken Gefährt, blau-weiss gestrichen mit kleiner Veranda und Inneneinrichtung à la Villa Kunterbunt. Die Wände sind mit Kunstwerken, Landkarten, Gedächtnisstützen und Rechenhilfen tapeziert.
Lesen lernen mit Lautschriftbildern
An einer Wand hängt das Alphabet in Lautschriftbildern. Damit lernen ABC-Schützen, Buchstaben lautgetreu zu verschriften. Es funktioniert wie Lippenlesen ab Bild. «Kinder, die sich zuerst mit der richtigen Aussprache der Laute auseinandersetzen, erhalten dadurch die nötige Grundlage, um besser lesen und schreiben zu lernen», sagt die Schweizer Erfinderin Ursula Rickli. So lasse sich Leseschwäche vorbeugen. Andrea Zweifel hat damit gute Erfahrungen gemacht: «Maycol lernte mit dieser Methode in weniger als sechs Monaten lesen und schreiben. Ausserdem eignet sie sich gut für meine Schülerinnen und Schüler, die Deutsch als Zweitsprache lernen.»
In Wagen 48 unterrichtet jeweils eine Lehrperson alle schulpflichtigen Kinder, deren Eltern mit dem Circus Knie unterwegs sind, in einer altersgemischten Klasse. Neben Maycols Schwester Chanel (zum Zeitpunkt der Reportage vor den Sommerferien noch Siebtklässlerin) sitzen sein Cousin Alessandro Moressa sowie die Artistentochter Katarina Grigorov (beide Zweitklässler) im Wagen. Dass die Eltern von Maycol und Chanel gleichzeitig ihre Vorgesetzten sind, lässt sich Andrea Zweifel im Unterricht nicht anmerken. «Ich begegne jedem Kind mit Respekt.» Und sie erwartet von jedem Kind ordentliches Benehmen.
Lehrplan 21 ist zirkustauglich
Der Unterricht richtet sich nach dem Lehrplan 21. Eine Zirkusschule wie diese sei dafür prädestiniert, findet Andrea Zweifel: «Wo geht handlungs- und kompetenzorientiertes Lernen besser als in einer so vielfältigen Welt wie dem Zirkus?»
Am Morgen des Besuchs der Schweizer Illustrierten behandelt die Lehrerin das Thema Bargeld mit ihren Primarschülern, während Chanel einen Aufsatz ins Reine schreibt. Maycol muss Franken zusammenzählen, die Zweitklässler lösen schwierigere Aufgaben mit Rappenbeträgen. «Das kriegt Maycol natürlich am Rande mit. So hat er in der zweiten Klasse, wenn das Thema vertieft wird, einen Lernvorteil», erklärt Zweifel. Noch rechnen die Kinder mit Spielgeld, aber bald will die Lehrerin mit ihnen einkaufen gehen, um das Erlernte in die Praxis umzusetzen.
So lange mag Maycol junior nicht warten. Er hat eine Idee! Er plant, sein neu erworbenes Wissen schon am Nachmittag während der Zirkusvorstellung zu testen: «Ich werde am Kiosk mithelfen beim Glaceverkauf!»
Auch Schulreisen finden in der Schule des Circus Knie etwas öfter statt als in der Regelschule, denn Ausflüge bieten sich auf der Knie-Tournee durch die schönsten Ortschaften der Schweiz natürlich an. Eine Lektion zum Thema Mittelalter ist in den historischen Gemäuern des Schloss Chillon besonders kurzweilig. Und wo recherchiert man einfacher für einen Vortrag über Tiere als im Zoo Zürich?
Gleichzeitig birgt das Unterrichten an einer so kleinen Schule Herausforderungen. Es gibt weder Turnhalle noch Werkräume. Das Materiallager ist auf zwei Ladekästen unter dem Wagen beschränkt. Oft ist Improvisation gefragt oder Andrea Zweifel muss für den Unterricht eine Neuanschaffung tätigen. Fürs Töpfern holt sie Ton, für NMG das Modell eines Skeletts. «Da gibt mir die Familie Knie pädagogisch wie finanziell freie Hand.»
Noch keine Noten für Maycol
Fredy Knie junior, der die zirkuseigene Schule in den Achtzigerjahren für seine Tochter Géraldine gründete (er selbst hatte unter seiner Schulzeit im Internat in Bern gelitten), hilft manchmal sogar persönlich mit. «Er kommt als Publikum vorbei, wenn Chanel einen Vortrag halten muss, den Erst- und Zweitklässler noch nicht verstehen.»
Während Maycols Lernstandskontrolle noch ohne Noten funktioniert, schreibt Sekundarschülerin Chanel durchgehend Bestnoten. Nicht ohne Grund: «Der grösste Vorteil einer so kleinen Klasse ist, dass ich jedes Kind individuell fördern und den Unterricht auf seine Bedürfnisse anpassen kann.»
Bildung spielt eine wichtige Rolle in der Familie Knie, schliesslich werden die Kinder dereinst ein Unternehmen mit mehreren Hundert Angestellten führen. Dass man dafür etwas auf dem Kasten haben muss, weiss auch «Maycolino» schon: «Ich will alles lernen, weil ich später im Zirkus arbeiten will – da muss man alles wissen», erklärt er. Langweilig findet er in der Schule fast nichts. «Nur die Pausen.»