Auf dem Weg ins bernische Reichenbach im Kandertal hängen überall Plakate. Drauf steht: «Danke, Kilian» oder «Du bist der Beste». Es ist ein Tribut an «einen der Bösesten» im Land, der privat aber ein ganz Lieber ist. Sagt zumindest seine Frau Kathi (35) während Kilian Wenger (34) mit den Kindern Mena Léanne (5) und Remo Darian (3) herumtollt. «Er ist ein geduldiger und sanfter Vater. Mit den Kindern ist er aber nicht so konsequent, wie er es im Schwingsport war», meint sie augenzwinkernd. Im August verkündet Kilian Wenger seinen Rücktritt. Der Rücken macht Probleme. «Ich kann diesen Sport nicht mehr auf dem Niveau betreiben, auf dem ich es will. Deshalb ergibt es für mich keinen Sinn mehr», sagt der Berner.
Schwer fällt ihm dieser Schritt nicht. Nur kurz hadert er mit dem Entscheid: An seinem letzten Fest, dem Brünigschwinget, verpasst er knapp einen Kranz. «Ich lag schlaflos im Bett und dachte: Soll ich jetzt wirklich so aufhören? Und bin zum Entschluss gekommen: Ja! Ich kann! Ich habe genug erreicht und kann auch ohne diesen letzten Kranz das Sägemehl verlassen.» In seiner Karriere gewinnt Kilian Wenger 23 Kranzfeste und 110-mal Eichenlaub. Dieses hängt an einem Holzbaum, den Wengers Grossvater Arthur extra für seinen Enkel angefertigt hat. Er steht seitdem im Keller, jetzt suchen die Wengers einen schönen Platz dafür im Haus.
Kennenlernstory
Mit Kathi ist Wenger seit über zehn Jahren zusammen, zwei Jahre davon verheiratet. 2013 lernen die beiden sich im «Schlagertempel», einer Diskothek in Kirchberg BE, kennen. Kathi weiss damals nicht, wer der 1,90 Meter grosse Hüne ist, als er an der Bar neben ihr eine Runde Getränke bestellt und die beiden ins Gespräch kommen. Kathis Kumpel, der mit dabei ist, sagt zu ihr: «Du weisst aber schon, wer das ist, gell?» Aber Kathi hat keine Ahnung vom Schwingen. Es interessiert sie auch nicht. Sie googelt nicht. Das Ausmass seiner Berühmtheit wird ihr erst nach einem vielsagenden Telefonat klar: Monate später ruft eine Schweizer Zeitung bei Wenger an. Sie hätten ihn und Kathi auf einem Fest erwischt und fotografiert. Entweder die Zeitung drucke dieses Bild, oder die Frischliierten könnten dem Blatt selber eins zuschicken. «Das war ein Schock. Da wurde mir erst bewusst, worauf ich mich da eingelassen hatte», erzählt Kathi.
«Ich musste oft Dinge tun, bei denen ich mich nicht wohlfühlte»
Kathi Wenger über das Leben im Rampenlicht
Für sie beginnt eine schwere Zeit. Sie wollte nie berühmt sein, nie im Rampenlicht stehen. Schliesslich entscheidet sie sich dennoch für die Liebe. «Es war nicht einfach für mich. Ich musste oft Dinge tun, bei denen ich mich nicht wohlfühlte.» Trotzdem ist sie jetzt auch etwas traurig über seinen Rücktritt. «Es ist ein grosser Teil unseres Lebens. Wir stehen jetzt vor etwas völlig Neuem. Das macht mir auch ein bisschen Angst», gibt sie zu. Auch Kilian hat an seinem Abschied am Berner Kantonalen Mühe. «Es hat schon sehr wehgetan, zu wissen, dass ich nie mehr wettkampfmässig schwingen werde.»
Am meisten vermissen wird er seine Schwingkollegen. Gleichzeitig freut er sich auf die Zeit mit seiner Familie. «Das ist jetzt meine Priorität.» Er nimmt die Hand von Kathi. «Endlich habe ich auch wieder Zeit für dich.» Die beiden lächeln. «Und endlich können auch wir Dinge tun, die für andere normal sind», fügt sie hinzu. Gemeint ist etwa das Skifahren, wandern, in die Ferien gehen. Und das nicht nur während eines Monats in der Herbstpause, sondern das ganze Jahr. Schwingen will der Hüne trotzdem noch: Mit Söhnchen Remo «trainiert» Wenger gern auf einer Matratze im Wohnzimmer. «Ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn meine Kinder auch schwingen würden.»
Neue Herausforderungen
Viel Zeit für sich hat Kilian Wenger noch nicht. Gerade schliesst er seine Ausbildung zum technischen Kaufmann ab. Vor ein paar Jahren kaufte er ein leer stehendes Schulhaus im Diemtigtal, baute es zum Wohnhaus um. Die Verwaltung der Mietwohnungen will er selber übernehmen – und Präsident seines Schwingklubs Niedersimmental werden. Die Wahl ist im November. «Ich möchte meine Erfahrung an die junge Generation weitergeben.»
Er weiss, wovon er spricht. Seinen grössten Triumph erkämpft Wenger früh in seiner Karriere und unerwartet. 2010, mit nur 20 Jahren, wird er in Frauenfeld TG Schwingerkönig. Das ist revolutionär: Er schafft es, auch junge Städter zu begeistern, und wird zum Frauenschwarm. Von einem Tag auf den anderen sind alle Augen auf den jungen Mann gerichtet. Medientermine, Sponsoren und die Favoritenrolle überrollen ihn. Nicht nur Wenger ist mit der Situation überfordert, auch der Schwingerverband. «Mit 34 kann ich heute sagen, dass ich diesem Druck nicht gewachsen war. Es war die schwerste und prägendste Zeit in meinem Leben.»
Drei Jahre später, beim ESAF in Burgdorf BE, steht er im Ring, weiss nicht, wie er es schaffen soll, seinen Titel zu verteidigen. Er kann nicht mehr an den Erfolg anknüpfen. Die Schweizer Presse zerreisst sich das Maul über den jungen Schwinger, titelt: «Schlechtester Schwingerkönig seit 15 Jahren». Für Kilian schwer zu ertragen. «Ich war enttäuscht, traurig und habe sehr an mir gezweifelt.» Heute würden ihn solche Schlagzeilen kaltlassen. Er sagt aber: «Es wäre besser gewesen, wenn ich erst mit 30 Schwingerkönig geworden wäre. Dann hast du einfach mehr Lebenserfahrung.» Und trotzdem ist Wenger dankbar für diesen Titel. Als junger «Giel» habe er nicht gewagt, davon zu träumen. Und jetzt verlässt er die Schwingerbühne – als ganz Grosser.