Flynn ist anders als die anderen Kinder im Dorf. Erst mit vier Jahren begann er zu sprechen, im Kindergarten und in der Primarschule zeigte er sich verhaltensauffällig und aggressiv. Diagnose: Asperger-Syndrom, eine Erkrankung innerhalb des Autismusspektrums.
«Er gilt als nicht beschulbar», erzählt seine Mutter Sandra und streicht ihrem Sohn im Wohnzimmer der Wohnung im zürcherischen Ebmatingen liebevoll durchs blonde Haar. Von der Volksschule wurde er verwiesen. Nun hat er in der Lip-Schule in Zürich, in der nach der Montessori-Pädagogik unterrichtet wird, eine Institution gefunden, die auf seine Bedürfnisse ausgerichtet ist. Flynn kann täglich höchstens zwei Stunden lernen. «Sonst wird er ausfällig, aggressiv oder beginnt zu zittern», so die Mutter.
Doch Flynn hat andere herausragende Qualitäten. Wenn ihn ein Thema interessiert, stürzt er sich mit all seiner Energie in die Materie. Die englische Sprache lernte er innerhalb von zwei Wochen. Und auf dem Tennisplatz setzt er den Massstab – europaweit. Seit dreieinhalb Jahren ist er in seiner Alters-klasse ungeschlagen. Im Juli 2020 wurde er zum fünften Mal nacheinander Schweizer Meister bei den U12-Junioren. In vier Spielen gab er nur zwei Games ab. Auch im U14-Ranking nimmt er die Spitzenposition ein. In der U16-Kategorie belegt er Platz 2. Weil seine Mutter will, dass er auch das Verlieren lernt, meldete sie ihn bei einem Turnier für Erwachsene an – ein kläglicher Versuch: Flynn fegte alle Gegner vom Platz.
Die Gewohnheiten des Sieges in Verbindung mit seiner Krankheit haben aber auch eine negative Seite. «Neben dem Platz ist Flynn ein Lämmli, auf dem Platz kann er heftig reagieren», sagt seine Mutter. Flynn habe den Verlauf der Ballwechsel in der Regel schon im Kopf, bevor der Punkt gespielt sei. Hält sich der Gegner dann aber nicht an den Plan, kann der junge Mann die Fassung verlieren – komplett. So ist er selber sein härtester Gegner. Swiss Tennis hat das Problem erkannt und Flynn eine Psychologin zur Seite gestellt.
Auch in der Familie ist einiges im Umbruch. Mutter Sandra befindet sich in Scheidung. So kämpfte sie auch darum, dass die Kinder ihren Namen tragen können. War ihr Sohn zuvor als Flynn Richter auf den Tennisplätzen unterwegs, taucht er nun als Flynn Thomas in den Meldelisten auf. «Das verwirrt die Gegner», sagt die Mutter lachend. Auch ihre Präsenz entspricht nicht unbedingt dem Klischee einer Tennismutter. Spätestens wenn beim Einspielen mit ihrem Sohn ihre grossflächigen Tattoos zu sehen sind, reibt sich die Konkurrenz verwundert die Augen. Doch Sandra Thomas sieht darin einen psychologischen Vorteil: «Die anderen Junioren wärmen sich mit ihrem Trainer auf. Bei Flynn dagegen steht das Mami auf der anderen Seite des Netzes. Flynn wird vielleicht unterschätzt.»
So oder so: Das Sportler-Gen liegt Flynn und seinen Schwestern im Blut. Léonie, 15, war die nationale Nummer 2 im Squash. Hannah, 13, galt als Hoffnung im Schweizer Eiskunstlauf. Weil der finanzielle Aufwand für drei Kinder im Spitzensport die Möglichkeiten der alleinerziehenden Mutter aber sprengt, musste sie zum Synchroneislaufen wechseln. Sandra rechnet vor: «Die Kosten für die Tenniskarriere von Flynn betragen jährlich zwischen 60 000 und 80 000 Franken. Swiss Tennis steuert 7000 Franken bei.» Mittlerweile hat sich die finanzielle Lage sogar noch verschärft: «Ich kann die Kosten nicht mehr stemmen», sagt Sandra. Deshalb pausieren Léonie und Hannah derzeit. Sie sehen darin aber auch eine Geste der Solidarität dem Bruder gegenüber: «Wenn wir zusammenhalten, kann es Flynn schaffen.»
Dass Flynn im Alter von fünf Jahren mit dem Tennissport begann, war Zufall. In der Waschküche am früheren Wohnort in Kriens LU fand er das Racket des Grossvaters und fragte: «Was ist das?» Auf den sechsten Geburtstag wünschte er sich eine Tennisstunde. Mutter Sandra brachte ihn zum TC Horw und zu Trainer Martin Vacek – und freute sich über die Abwechslung: «Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich eine Stunde für mich hatte.» Als sie ihren Sohn abholte, stand sie einem völlig perplexen Tennislehrer gegenüber: «Ihr Sohn ist der Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie gesehen.»
Seither schlägt Flynn seinen Gegnern die Bälle um die Ohren, und zwar so sehr, dass ihm die Sparringspartner ausgegangen sind. Erst in Zürich, in der Tennis Academy des früheren Profis Robin Roshardt, findet Flynn das richtige Umfeld. Deshalb ist die Familie in die Zürcher Agglomeration gezogen.
Hier darf Flynn auf die Unterstützung von spendablen Sportfreunden zählen: von Alfred Meili, dem Besitzer der Tennisanlage Lengg, sowie von Unternehmer Reinhard Fromm. «Die beiden stehen voll hinter uns», sagt Sandra dankbar. Derweil formuliert Flynn sein Ziel klipp und klar: «Ich will die Nummer 1 der Welt werden – wie Novak Djokovic.» Den Serben bezeichnet er als sein grosses Vorbild: «Weil er der Beste ist – und oft auch gegen Vorurteile zu kämpfen hat.» Ob Flynn sein Ziel erreichen wird? Robin Roshardt mahnt zur Vorsicht: «Er hat alles, was es braucht: Talent, Einstellung, Arbeitswille.» Aber mit dem Begriff Wunderkind müsse man im Tennis vorsichtig umgehen. Der Weg an die Spitze ist weit und hart.
Wie auch immer, Mutter Sandra und die Schwestern Léonie und Hannah schenken ihrem kleinen Prinzen das, was es auf keinem Tenniscourt - zu gewinnen gibt: Liebe, Schutz und Zuneigung.