Während die meisten Teenager ihre Zeit damit verbringen, Freunde zu treffen, Musik zu hören oder shoppen zu gehen, tingelt Umweltaktivistin Greta Thunberg von einem Termin zum nächsten. Vorträge auf zahlreichen Veranstaltungen, Treffen mit Politikern, Auftritte in den Medien – all das ist fester Bestandteil des Alltags der 17-Jährigen geworden. Und spätestens seit ihrer Wutrede am Uno-Klimagipfel in New York und der Ernennung des «Time»-Magazine zur Person des Jahres 2019, hat sich die Schwedin einen Platz in der Weltgeschichte gesichert.
Doch bis dorthin war es ein langer Weg. Ein schmerzhafter, wie ein neues Buch ihrer Mutter Malena Ernman zeigt. In «Our House is on Fire: Scenes of a Family and a Planet in Crisis», das am 5. März im Penguin Verlag erscheint und aus dem ein Vorabdruck in der englischen Zeitung «Guardian» publiziert wurde, beschreibt sie den Kampf ihrer Tochter gegen Depressionen, Essstörung und Angstzustände.
Als Greta elf war, lief es nicht gut in der Schule. «Sie weinte in der Nacht, wenn sie schlafen sollte. Sie weinte auf dem Schulweg. Sie weinte im Unterricht und während der Pausen und die Lehrer riefen fast täglich an», schreibt Malena Ernman. Vater Svante Thunberg musste jeweils zur Schule eilen und das Mädchen abholen und nach Hause zu Golden Retriever Moses bringen. Dort sass sie während Stunden kuschelnd mit dem Hund, streichelte sein Fell. «Sie verschwand langsam in einer Art Dunkelheit, hörte auf zu funktionieren», so die schwedische Opernsängerin in dem Buch. «Sie hörte auf zu reden, hörte auf zu essen.»
Dann bekommt Greta ihre erste Panikattacke: «Sie machte ein Geräusch, das wir noch nie zuvor gehört hatten, ein abgründiges, entsetzliches Heulen, das über 40 Minuten lang dauerte.»
Die Eltern machen sich grosse Sorgen, in nur zwei Monaten verlor das Mädchen fast zehn Kilo. Greta stand kurz vor der Einlieferung ins Krankenhaus. «Bitte iss», flehen die Eltern ihr Kind an. Zuerst ganz ruhig und besonnen, dann bestimmter. Schliesslich brüllen die beiden ihre ganzen Ängste und Hoffnungslosigkeit heraus: «Iss! Du musst essen, verstehst du das nicht? Du musst jetzt essen, sonst stirbst du!»
Gretas Vater Svante kocht ihr Gnocchi und setzt dem Mädchen den Teller vor die Nase. «Jedes einzelne drehte sie um, drückte an ihm, wieder und immer wieder. Nach 20 Minuten begann sie zu essen. Sie leckte, saugte und kaute daran, kleine, kleine Bissen. Es dauerte ewig», beschreibt die Mutter die Szene. Dann sagt Greta plötzlich: «Ich bin voll, ich kann nicht mehr weiter essen».
«Mittagessen: 5 Gnocchi. Zeit: 2 Stunden und 10 Minuten», notiert der Vater auf einem weissen Papier, das die Familie an die Wand geheftet hat. Alles, was Greta isst und wie lange sie dafür braucht, wird darauf aufgeschrieben.
«Ich will keinen Freund. Freunde sind Kinder und Kinder sind gemein.»
Greta Thunberg
Greta hat kaum mehr Kraft, ihr fällt es schwer, die Treppe hochzukommen. «Ihre Körpertemperatur ist sehr tief und ihr Puls und Blutdruck deuten auf Unterernährung hin», stellt die Mutter fest. Gleichzeitig wird Greta immer depressiver.
Eine Schulpsychologin, die die Eltern aufsuchen, diagnostiziert ein «hochfunktionelles Asperger-Syndrom», eine Form des Autismus. Greta redet, ausser mit ihrer Familie, mit niemandem mehr. Die Mutter ist verzweifelt: «Wirklich jeder bot uns Hilfe an, aber da gab es nichts, das uns helfen konnte. Wir tasteten im Dunkeln.»
Die Mutter erklärt Greta, dass sie wieder Freunde haben wird, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn alles vorüber, ausgestanden ist. Aber ihre Antwort ist immer dieselbe: «Ich will keinen Freund. Freunde sind Kinder und Kinder sind gemein.»
Gretas Leben beginnt sich erst zu ändern, als sie Interesse für den Klimawandel zeigt. Ausschlaggebend ist ein Film über den Müll in den Ozeanen, den sie mit ihrer Klasse anschaut. Eine Insel aus Plastik, grösser als Mexiko, die im Südpazifik treibt. Greta weint während des ganzen Films.
Während ihre Klassenkameraden das Gesehene schon bald wieder vergessen, oder besser, verdrängt, haben und sich den alltäglichen Dingen widmen, ist für Greta die Welt nicht mehr so, wie zuvor. «Sie sah, was der Rest von uns nicht sehen wollte. Es war, als ob sie unsere CO2-Emissionen mit blossem Auge sehen konnte», schreibt Malena Ernman über diesen Moment. «Diese unsichtbare, farblose, geruchlose, geräuschlose Hölle, die unsere Generation entschieden hat, zu ignorieren.»
Im Sommer 2018 plant Greta ihren ersten Schulstreik. Gemeinsam mit ihrem Vater gestaltet sie ein Plakat, mit dem sie sich auf den Weg zum Parlamentsgebäude macht. «Schulstreik fürs Klima», steht mit grossen Lettern darauf geschrieben. Was noch zögerlich und unsicher beginnt, wird grösser und grösser. Immer mehr Menschen schliessen sich Greta an, plötzlich will jeder was von ihr, Zeitungen berichten über sie, auf Social Media startet sie durch. Auf der ganzen Welt strömen Schüler, Studenten, Aktivisten, aber auch Pensionäre, Kinder und Familien zu den Fridays for Future-Protesten.
Greta steht plötzlich im Mittelpunkt, wird von ihren Anhängern frenetisch gefeiert. Ein Gefühl, das sie bisher nicht kannte. «Ich habe noch nie eine Gruppe Kinder gesehen, die nicht gemein zu mir waren. Und wo auch ich immer ich war, ich wurde gemobbt weil ich anders war», sagte sie einst zu ihrer Mutter.
Vieles hat sich im Leben der Umweltaktivisten verbessert. «Sie geht zeitig ins Bett, kann sofort einschlafen und schläft ruhig die ganze Nacht», schreibt die Mutter. Nur das mit dem Essen will immer noch nicht so richtig. Es ist ein heikles Thema in der Familie.
An einem Streiktag schaute ein Mann von Greenpeace bei Greta vorbei. In der Hand hält er eine Tüte mit Thai-Nudeln. «Bist du hungrig?» fragt er Greta, «es ist vegan, willst du?»
Für die Mutter geschah was Erstaunliches: «Er hielt ihr den Beutel hin und Greta öffnete den Deckel des Behälters und roch ein paar mal daran. Dann nahm sie einen kleinen Bissen. Und einen zweiten. Niemand reagierte auf diesen Umstand, warum auch? Warum sollte es bemerkenswert sein für ein Kind, mit einer Gruppe Menschen am Boden zu sitzen und Pad Thai zu essen? Greta ass weiter. Nicht nur ein paar Bisse, fast die ganze Portion.»