Simonetta Sommaruga ist 31 Jahre alt, als es zum ersten Mal heisst: «Wenn Frau will, steht alles still.» «Ich kann mich noch gut an den Frauenstreik am 14. Juni 1991 erinnern», sagt die SP-Bundesrätin, 59, beim Treffen mit der Schweizer Illustrierten in der Bar Cinématte in Bern.
«Ich lebte in Fribourg, gab Klavierunterricht und machte die Nachtschicht im Haus für geschlagene Frauen. Diesen Kontrast vergesse ich nie: Drinnen im Versteckten die misshandelten Frauen, draussen selbstbewusste Frauen, die protestierend Plätze einnahmen. Ich war am Nachmittag mit vielen anderen auf der Place Georges-Python dabei. Die einen haben auf Pfannendeckel geschlagen, andere haben Picknicks gemacht. Es war ein Fest. Nie hätten wir damals gedacht, dass Hunderttausende im ganzen Land auf die Strasse gehen.»
Frau Bundesrätin, wurden Sie schon aufgrund Ihres Geschlechts diskriminiert?
Ja, als ich eine meiner ersten Stellen antrat. Da verdiente ich massiv weniger als mein männlicher Vorgänger.
Wie haben Sie das rausgefunden?
Ich habe seine Lohnabrechnung gesehen. Dann reagierte ich typisch weiblich: Ich schwieg, aus Angst, dass ich den Job verliere, wenn ich mehr Lohn verlange. Ich dachte, ich muss dem Chef erst beweisen, dass ich das Geld wert bin.
Und dabei bliebs?
Nach zwei Jahren brachte ich den Mut auf und forderte mehr Lohn – mit Erfolg. Gerade junge Frauen müssen sich bewusst sein: Den tieferen Lohn spüren sie nicht nur im Portemonnaie, sondern auch später bei der tieferen Rente.
Also raten Sie Frauen, bei Lohnverhandlungen offensiver zu sein?
Frauen sind sicher nicht selber schuld, dass sie beim Lohn diskriminiert werden! Bei einem Arbeitgeber, der sich erlaubt, eine Frau schlechter zu bezahlen – nur weil sie eine Frau ist –, liegt das Problem beim Vorgesetzten.
Und wie kann man den Arbeitgeber zum Umdenken bringen?
Als Justizministerin konnte ich letztes Jahr ein Gesetz zur Lohntransparenz im Parlament durchbringen. Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden sind neu verpflichtet, alle vier Jahre zu prüfen, ob sie Männern und Frauen gleich viel Lohn zahlen. Allerdings droht Unternehmen keine Strafe, wenn dem nicht so ist! Die Lohnanalysen sind ein erster Schritt, aber ein zentraler. Der gesellschaftliche Druck steigt, wenn sichtbar wird, dass Firmen Frauen diskriminieren.
Allerdings droht Unternehmen keine Strafe, wenn dem nicht so ist!
Die Lohnanalysen sind ein
erster Schritt, aber ein zentraler. Der gesellschaftliche Druck steigt, wenn sichtbar wird, dass Firmen Frauen diskriminieren.
Heute am Frauenstreiktag ist Bundesratssitzung. Streiken Sie?
(Lacht.) Nein, an der Sitzung bin ich dabei, sonst würden ja die Männer über uns bestimmen!
Gehen Sie nicht auf die Strasse?
Am Vormittag gratuliere ich gemeinsam mit den fünf Waadtländer Regierungsrätinnen einer Schulklasse, die einen tollen Kurzfilm zur Rolle der Frau gemacht hat. Der Kanton Waadt hat mit über 71 Prozent eine historische Frauenmehrheit in der Regierung. Wenn es die Agenda zulässt, besuche ich frühabends die Frauen auf dem Bundesplatz.
Die Mehrheit der Firmen unterstützt es, wenn ihre weiblichen Angestellten streiken – aber meist nur, wenn sie einen Ferientag beziehen. Ist das nicht stossend?
Je nach Betrieb braucht es individuelle Lösungen. Aber die Arbeitgeber tun gut daran, die Forderungen nach gleichen Löhnen und einer familienfreundlichen Arbeitswelt ernst zu nehmen. Sie suchen Fachkräfte – und wir haben bestausgebildete Frauen.
Schon beim ersten Streik 1991 stellten die Frauen diese Forderung. War der Streik umsonst?
Nein, sicher nicht. Kurz darauf hat das Parlament das Gleichstellungsgesetz verabschiedet, 2005 dann die Mutterschaftsversicherung. Aber dass Frauen auch heute noch pro Monat im Schnitt 600 Franken weniger verdienen als die Männer, nur weil sie eine Frau sind, ist ein Skandal.
Warum geht das bei uns so lange?
Die Frauen in der Schweiz wurden erst sehr spät politisch mündig. Wir sind das zweitletzte Land in Europa, welches das Frauenstimmrecht eingeführt hat. Die Gleichstellung hat also jahrzehntelange Verspätung.
Sind Sie selbst in einem emanzipierten Haushalt aufgewachsen?
Ich bin in einem eher konservativen, sehr katholischen Umfeld gross geworden. Meine Eltern hatten die klassische Rollenaufteilung – mein Vater war Werkleiter bei Lonza, meine Mutter Hausfrau mit vier Kindern. Ich würde nie sagen, meine Mutter habe nicht gearbeitet – im Gegenteil. Vier Kinder und ein Garten sind ein strenger Job, aber dafür hat sie nur eben kein Geld bekommen. Ich durfte studieren, was ich wollte, so viel Gleichberechtigung gab es bei uns. Sich öffentlich zu behaupten und meine Forderungen laut anzubringen – das wurde mir aber nicht in die Wiege gelegt. Deshalb war der Frauenstreik damals so wichtig. Er motivierte mich, künftig eine aktive Rolle in der Öffentlichkeit wahrzunehmen.
Wann waren Sie beruflich zuletzt die einzige Frau unter Männern?
Vor zwei Monaten bei einem Treffen von europäischen Verkehrsministern und Spezialisten. 14 Männer und ich als einzige Frau! Ich habe nicht gedacht, dass es das noch gibt.
Und wie behaupten Sie sich in einer reinen Männerrunde?
Mit meiner politischen Erfahrung bringe ich mich bei Gesprächen und Verhandlungen problemlos ein. Wenn später aber alle zusammen an die Bar gehen, fühlt man sich als einzige Frau schon alleine. Ich bin froh, sind wir im Bundesrat wieder drei Frauen.
Warum? Ist die Stimmung anders?
Ich habe ja verschiedene Konstellationen erlebt. Von nur zwei Frauen bis zu einer Frauenmehrheit. Was ich feststelle: Wenn mehrere Frauen im Bundesrat sind, wird sachlicher diskutiert. Wenn die Männer deutlich in der Mehrzahl sind, geht es mehr um Macht. Neu decken wir drei Frauen ein breites politisches Spektrum ab. Das heisst, wenn wir uns einig sind, haben wir die Basis für eine starke Allianz. Für eine Mehrheit brauchen wir dann nur noch einen einzigen Mann.
Beim Vaterschaftsurlaub hat diese Frauen-Allianz trotz Befürworter Alain Berset nicht funktioniert. Nicht einmal die Lösung mit zwei Wochen hat im Bundesrat eine Mehrheit gefunden!
Ich trage den Entscheid des Bundesrats loyal mit. So will es das Kollegialitätsprinzip. An der Realität ändert das aber nichts.
Mit einem Tag Vaterschaftsurlaub bleibt die Schweiz in Europa Schlusslicht.
Leider haben wir in der Schweiz eine Arbeitswelt, in der die Vaterschaft nicht stattfindet. Wird ein Mann Vater, so heisst es: Gratuliere! Und dann geht es weiter wie zuvor. Da wundert man sich, dass es fast keine Frauen in den Geschäftsleitungen gibt …
Was braucht es denn?
Ich war kürzlich in Schweden und habe gesehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Mütter mit zwei oder drei Kindern in Führungspositionen sind. Schweden hat 16 Monate Elternzeit – davon gehören mindestens drei Monate den Vätern. Das bringt den Eltern echt etwas. Und es braucht mehr Männer in Kaderfunktionen, die Teilzeit arbeiten.
Gibts diese Männer in Ihrem Departement Uvek?
Ja, ich habe im Stab mehrere Männer, die Teilzeit arbeiten. Es sind vorwiegend 80-Prozent-Stellen, verbunden mit einem Tag Homeoffice. Männer, die für ihre Kinder Verantwortung übernehmen, werden heute von Chefs leider oft noch als nicht vollwertig angeschaut. Schnell heisst es: Der ist doch nicht wirklich motiviert. Solange das so ist, werden auch Frauen in Teilzeitfunktionen nicht ernst genommen.
War Ihnen immer klar, dass Sie Karriere machen?
Nein, mein Weg war alles andere als gradlinig: Pianistin, Klavierlehrerin, Konsumentenschützerin, Gemeinderätin, Feuerwehrchefin …
Sie waren bei der Feuerwehr?
Ja, in Köniz, acht Jahre lang. Da habe ich sicher auch gelernt, mich zu behaupten. Chefin zu werden, ist bei Frauen vielleicht nicht von Anfang an der Plan – zumindest nicht zu meiner Zeit –, und trotzdem kenne ich heute viele sehr überzeugende Chefinnen, die grosse Führungsqualitäten besitzen. Und das ganz ohne Militär.
Die «Weltwoche» schrieb, zwischen Ihnen und Bundesratskollegin Karin Keller-Sutter herrsche «Zickenkrieg». Stimmt das?
Wenn zwei Bundesräte unterschiedlicher Meinung sind, schreibt niemand von einem «Ziegenbockkrieg». Bei zwei Bundesrätinnen wird irgendeine Geschichte fabriziert. Meine Kollegin und ich haben nur den Kopf geschüttelt.
Im Artikel war nicht nur von charakterlichen Ähnlichkeiten die Rede, sondern auch Äusserliches – wie etwa die Frisur. Nervt Sie das?
Dass das Äussere bei Politikerinnen eine wichtigere Rolle spielt, ist bekannt. Wir Frauen im Bundesrat nehmen es gelassen. Schreibt jemand, ich hätte einen schönen Rock, finde ich das ja ganz angenehm (schmunzelt).
Was auffällt: Alle drei Frauen im Bundesrat sind kinderlos. Ist eine Bundesrätin mit kleinen Kindern undenkbar?
Das Amt vereinnahmt das Leben ziemlich umfassend. Was mir bei Bundesratskandidaturen auffällt: Bei Frauen wird sofort gefragt «Was machen Sie dann mit den Kindern?» Bei Männern kaum.
Haben Sie für Ihre Karriere auf Kinder verzichtet?
Als ich meinen Mann kennenlernte, hatte er schon drei Kinder. So haben wir gemeinsam entschieden, dass es dabei bleibt. Ich habe aber bis heute einen guten Kontakt zu seinen Kindern. Dafür bin ich sehr dankbar. Und ich habe riesige Freude am ersten Grosskind. Für mich ist aber ganz klar: Frauen sollen nicht zwischen Karriere und Kindern entscheiden müssen!
Diesen Herbst sind Wahlen: Im Parlament sind Frauen stark untervertreten. Braucht es auf den Wahllisten Quoten?
Ich habe das Glück, in einer Partei zu sein, welche die Gleichstellung stets ernst genommen hat. Das zeigt, dass es die Parteien selbst in der Hand haben. Sie können dafür sorgen, dass genügend Frauen auf den Listen sind.
Wenn wir schon von Gleichberechtigung sprechen: Müsste das Rentenalter für Frauen nicht auf 65 erhöht werden?
Solange die Frauen so viel weniger Lohn haben und entsprechend weniger Rente, verstehe ich, dass viele Frauen mit dem Rentenalter 65 Mühe haben. Deshalb sagten sie bei der letzten gescheiterten Rentenreform mehrheitlich Nein.
Was ist denn Ihr Rat an junge Frauen, die Karriere machen wollen?
Brauchen sie überhaupt Rat? Falls Ja: Findet einen Beruf, den ihr mit Leidenschaft macht. Für eine Karriere ist das die beste Voraussetzung.
Nach acht Jahren als Justizministerin haben Sie das Departement gewechselt. Woher nahmen Sie die Energie, neu anzufangen?
Im Uvek geht es um Themen, welche die ganze Bevölkerung betreffen. Was wir in der Umweltpolitik machen, bei der Bahn oder bei
der Post, spüren die Leute ganz unmittelbar. Das spornt mich an. Die Menschen sollen spüren, dass der Bundesrat für sie da ist, bei der Bahn oder beim Klimawandel.
Mit der Flugticketabgabe haben Sie ja schon einen Coup gelandet!
Allen ist klar, dass es mit einer Flugticketabgabe alleine nicht gemacht ist. Ich suche Rezepte, die fürs Klima gut sind und gleichzeitig hier Arbeitsplätze schaffen. Ziel ist, dass wir unsere Technologie ins Ausland exportieren. Sie sehen, ich habe genug Energie.
Bei all der Arbeit: Wer macht bei Ihnen zu Hause den Haushalt?
Mein Mann und ich leben in zwei Wohnungen. Den Haushalt erledigt also jeder für sich. Er kocht übrigens sehr gut. Ah ja, diesen Tipp könnte ich jungen Frauen auch noch geben: Sucht euch einen Mann, der gut kochen kann! Dies erleichtert das Leben ungemein (lacht).