Schulfreunde? Um Himmels willen! Weshalb sollten Menschen einem nahestehen, mit denen man vor einem halben Jahrhundert zufällig den Heimatkundeunterricht besuchte? «Weisch no …?» Was hätten wir uns noch zu sagen ausser dem bemühten Versuch, an längst Vergangenes anzuknüpfen? Und was soll ich erzählen, wenn mir im Tram unversehens eine Kameradin aus der Parallelklasse von 1977 gegenübersitzt? Ihr Name ist mir entfallen. Und sie brösmelt, wie im Bernbiet üblich, ein verlegenes «Hey, tschou …! Wie bisch ihm drin?» hervor, weil sie sich vermutlich auch an meinen Namen nicht erinnert.
Was mir erst recht widerstrebt, ist das alberne Überhöhen, besonders gepflegt unter erwachsenen Buben, die als kleine Buben mal gemeinsam im Klassenzimmer sassen. Dieses gegenseitige Schulterklopen, das Auflebenlassen von Streichen: «Iiih, sy mir Giele gsy! Iiiih, hei mirs düreggäh …» Zwar sang Endo Anaconda von Stiller Has dies ironisch, auch ihn befremdete die rückwärtsgewandte Kumpanei, das Beschwören einstiger Sumpf- und Töffli-Touren. Da, wo ich herkomme, meinen Kameraden von ehedem es aber ernst, wenn sie schwadronieren: «Iiih, sy mir Giele gsy …»
Seien wir ehrlich! Die Klassenlager waren grauenhaft, diese Mischung aus Übermüdung, Heimweh und Eifersucht, weil die Sandra sowieso eher auf den Ändu stand als auf mich, er war besser im Weitsprung. Und wie hätte sie ausgerechnet auf mich Grööggel ein Auge werfen wollen, der ich einen Kopf kleiner war als sie …
Und ausserdem heiser, weil ich meist schon am zweiten Tag die Stimme verlor.
Nein, wirklich: Ich habe keine Schulfreunde von damals.
Ausser den einen. Der, genau genommen, gar kein Schulfreund war, denn wir besuchten nicht dieselbe Klasse. Und hatten uns nicht im Dorf kennengelernt, sondern am Strand. Anfänglich waren wir nämlich Ferienfreunde, bauten wir Sandburgen und holten uns in der Bar «Cigolini» für zweihundert Lire unser Gelato al cioccolato e pistacchio. Seine Eltern fuhren mit ihm Jahr für Jahr an denselben ligurischen Badeort wie meine Mutter mit uns Kindern.
Humphrey nannte ich ihn später, in Anlehnung an Bogart, den grossen Schweiger des Kinos. Auch unser Humphrey sprach wenig, aber wenn, dann Träfes. Wir tauschten Panini-Bildchen, schwärmten für Ornella Muti, besuchten zusammen unser erstes grosses Konzert: Udo Lindenberg und Gianna Nannini; er wegen Lindenberg, ich wegen Nannini, und danach waren wir beide von beiden Fan. Wir rauchten, um uns gross und stark zu fühlen, Frégate, fuhren in einem rostigen Renault 5 in den Süden, hörten unterwegs die Kölner Mudartrocker BAP und sangen «Verdamp lang her» Wort für Wort mit.
Doch plötzlich war Humphrey weg. Für fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre verloren wir uns aus den Augen, ich könnte nicht mehr sagen, weshalb. Und auch nicht genau, wie wir uns schiesslich wiederfanden. Beim ersten Treffen jedenfalls sprachen mein Freund aus der Schulzeit und ich keine Sekunde von früher. Kein «Weisst du noch?», kein «Mann, haben wirs durchgegeben …» Stattdessen sprachen wir über unsere Kinder, mein Schreiben, seine Tätigkeit als Schulleiter.
Inzwischen sind unsere Kinder erwachsen, noch immer begegnen wir uns sets im Jetzt, und jedes Mal verblüfft mich der Kerl, weil er schon wieder einen neuen Beruf hat. Und neue Ideen, auf die ich nie gekommen wäre. Noch immer sind die Abende zu kurz, bevor es wieder gilt, den Gast aufs Perron zu begleiten – wir besuchen uns abwechselnd in der Stadt des anderen.
Neulich kam er mit einer vergilbten Foto an, die uns als Kinder am Strand zeigt, beide in gestreiften Shirts, er sitzend, ich in Badehose vor einem Menschenpulk liegend. Himmel, welch peinliche Pose! Wir waren uns einig: «Verdamp lang her.» Über BAP sprechen wir übrigens kaum, und die Frégates, diese scheusslichen Zigaretten, haben wir nie mehr erwähnt.
Was geblieben ist: die alte Vertrautheit. Und erst, wenn er das vierte Bier bestellt und ich mein drittes Glas Franciacorta trinke, raunt vielleicht mal einer von uns: «Iiii, sy mir Giele gsy, iiih, hei mirs düreggäh …» Aber erst dann.