Wer «Hochbegabung» hört, denkt schnell mal an Kinder, die in der Schule Höchstleistungen zeigen, Telefonbücher auswendig lernen oder schon in der ersten Klasse Rechenaufgaben lösen, die für Sechstklässler gedacht sind. Andere wiederum assozieren Hochbegabung mit Kindern, die schon im Kindergartenalter zu den grössten Pianisten der Welt gehören.
Fakt ist: Rund um hochbegabte Kinder gibt es viele Mythen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Sowieso und überhaupt: Was genau heisst eigentlich Hochbegabung? Eine Expertin, die auf diese und andere Fragen zum Thema die richtigen Antworten kennt, ist Regula Haag, die Geschäftsführerin von hochbegabt.ch. SI Family hat ihr zehn Fragen gestellt.
Liebe Frau Haag, was sind die ersten Anzeichen für Hochbegabung?
Oft sind es Eltern selber, die rund um den Eintritt in den Kindergarten selber einen ersten Verdacht schöpfen. Sie merken, dass ihr Kind andere Sachen als die anderen Kinder interessiert und es sich auch anders beschäftigt als Gleichaltrige. Hochbegabte Kinder setzen sich oft sehr intensiv mit einem Thema auseinander. Es kann sogar sein, dass sich Kinder, obwohl sie sich auf den Kindergarten gefreut haben, langweilen und deswegen leiden. Das Kind will nicht jeden Tag das Gleiche spielen, es ist schlichtweg auf einem anderen Niveau als die anderen. Wenn es nicht die Eltern sind, denen ihr Kind auffällt, ist es oft die Kindergartenlehrperson, die einen ersten Verdacht schöpft. Es kann aber auch durchaus sein, dass befreundete Elternpaare, die schon ältere Kinder haben, Dinge sagen wie 'Euer Kind ist schon sehr weit und sehr reif für sein Alter'. Vor allem mit Ausblick auf die Einschulung macht es Sinn, genauer hinzuschauen und einzuschätzen, ob ein Kind eine Hochbegabung zeigt. Ist diese ganz breit gestreut über alle Themen oder handelt es sich eher um eine Inselbegabung in einem Bereich wie zum Beispiel Kunst und Kreativität? Eine gesamtheitliche Hochbegabung ist etwas einfacher zum fördern als eine sogenannte Inselbegabung. So kann es sein, dass ein Kind bei der Sprache hochbegabt ist, in anderen Bereichen aber durchschnittlich intelligent ist.
Wer erkennt Hochbegabung am ehesten?
Wie bereits erwähnt sind es häufig Eltern selber. Wenn aber ein Kind aus einem ökonomisch eher schwachen Haushalt kommt, dann sind es meist Kindergartenlehrpersonen oder Lehrpersonen in der Unterstufe, die merken, dass ein Kind anders ist und dass da mehr dahinter steckt. Die Fachpersonen sind es dann auch, die das Thema ansprechen und merken, dass genau hingeschaut und allenfalls abgeklärt werden sollte.
Macht eine Abklärung beim Schulpsychologischen Dienst in jedem Fall Sinn?
Nein, wir raten davon ab Kinder abzuklären, um ihnen einfach den Stempel «Hochbegabt» aufzusetzen. Eine Abklärung macht nur Sinn, wenn es zu Problemen kommt.
Was sind das für Probleme, die hochbegabte Kinder von nicht hochbegabten Kindern unterscheiden?
Also zuerst einmal: Nicht jedes hochbegabte Kind ist mit Problemen konfrontiert. In erster Linie, und das ist uns ganz wichtig, ist eine Hochbegabung ein Geschenk. Viele Hochbegabte kommen unauffällig durch die Schulzeit, sie sind einfach klug und alles geht ganz locker für sie. Wenn Sie selber an Ihre Schulzeit zurückdenken, fällt ihnen sicher ein Kind von damals ein, für das alles so ring gegangen ist. Dann gab es die sogenannten Streber, das sind Hochleister. Die waren auch gut, mussten aber viel mehr für ihre guten Noten machen. Heute ist alles etwas anders. Heute schauen Lehrpersonen genauer hin und setzen früh auf Förderung. Hochbegabung wird nämlich nur dann zum Problem, wenn sich ein Kind langweilt, wenn es unterfordert ist und wenn es das Gefühl hat, dass es so gar nicht in diese Welt passt.
Reagieren Mädchen und Jungen anders auf Unterforderung und Langweile?
Absolut. Mädchen klagen oft über Kopf- und Bauchweh. Sie sind häufiger beim Kinderarzt, sie sagen, dass sie nicht in die Schule wollen und fühlen sich sehr unwohl. Bei Jungs beobachten wir, dass sie laut werden. Sie stören den Unterricht, sind aggressiv und leiden. Oft werden sie zuerst auf ADHS untersucht, bevor man auf die Idee der Hochbegabung kommt. Das liegt unter anderem daran, dass Hochbegabte oft abhängen und sich nicht mehr für den Schulstoff interessieren. Die Folge daraus ist, dass sie dann, trotz ihres hohen IQs, schlechte Noten schreiben.
Wie können Eltern ein hochbegabtes Kind fördern?
Hier verweise ich sehr gerne auf unsere Homepage, wo wir sehr viele Informationen und Anregungen zu genau dieser Frage zusammengetragen haben.
Wie kann man Eltern, die frisch mit der Thematik konfrontiert sind, eine Hochbegabung und die daraus resultierende Langweile erklären?
Wir greifen gerne auf folgenden Vergleich zurück: Stellen Sie sich vor, Sie dürften am Morgen nicht mehr Zeitungen lesen, sondern immer nur das gleiche Bilderbuch anschauen. Sie würden auch an Ihre Grenzen kommen und unzufrieden werden. Genau deswegen sind eine anregende Umgebung und adäquate Förderung so wichtig für hochbegabte Kinder. Wenn das Kind in der Schule ständig alles repetieren muss, das es schon längst begriffen hat, kann es wie bei Erwachsenen, zu einem Bore-out kommen. Der schulpsychologische Dienst ist immer eine gute Adresse. Da sitzen wir Fachpersonen, die dann eine Abklärung machen, die für Eltern kostenlos ist. Wird eine Hochbegabung diagnostiziert, muss die Schule die Konsequenzen tragen und dem Kind eine adäquate Förderung bieten.
Ist Hochbegabung mehr Fluch oder mehr Segen?
Die Hochbegabung selber ist definitiv ein Segen. Das Problem entsteht nur durchs Umfeld, wenn das Kind nicht richtig gefördert wird. Manche behaupten, dass hochbegabte Kinder anstrengender oder ganz allgemein schwieriger sind. Das ist wissenschaftlich absolut nicht belegt und kann darum nicht bestätigt werden. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass ein hochbegabtes Kind für Eltern anstrengend sein kann, weil es so schnell so viel fordert und schon sehr früh komplexe Fragen stellt. Hier ist den Eltern aber geholfen, wenn sie sich über Förderungsangebote informieren.
Zurück in die Schule: Wie wird ein hochbegabtes Kind konkret gefördert?
In einem ersten Schritt eruiert man, wo seine Stärken liegen. Man schaut, ob man dem Kind Zusatzaufgaben geben kann. Das ist oft besser als Kinder einfach den Stoff vorausarbeiten zu lassen. Es gibt an Schulen aber auch zusätzliche Angebote, wo Hochbegabte eigenen Projekten nachgehen können. Wichtig vor allem ist Langweile zu vermeiden.
Macht es Sinn, dass hochbegabte Kinder Klassen überspringen?
Wenn sie allgemein sehr intelligent sind, also nicht nur in einem Bereich, dann kann das durchaus Sinn machen. Dabei muss aber einiges beachtet werden: Will das Kind überhaupt? Wenn ja, soll es die Chance bekommen, in der neuen Klasse schnuppern zu dürfen. Wenn es sich nicht wohl fühlt und nicht will, dann sollte man seine Gefühle respektieren und in einem halben Jahr wieder schauen, was der nächste Schritt sein könnte. Übrigens: Für Mädchen ist das überspringen einer Klasse oft einfacher. Kommt ein jüngeres Mädchen in eine neue Klasse, kümmern sich die älteren Mädchen gerne um sie. Sie finden sie herzig und nehmen sie in Schutz. Buben sind da oft brutaler. Kommt ein ‚Bubi‘, das noch nicht so weit ist wie sie, kann es zu Hänseleien kommen.