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Fachperson Phillippe Hollenstein erklärt

Was heisst es, ein hochsensibles Kind zu haben?

Rund 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung sind hochsensibel. Was aber bedeutet das wirklich? Wie äussert sich Hochsensibilität und wie können Eltern hochsensible Kinder am besten unterstützen? Philippe Hollenstein, zertifizierter Berater für hochsensible Menschen, Therapeut und ehemaliger Schulsozialarbeiter klärt auf.

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Ein hochsensibles Kind neigt zur Überreizung.

Ein hochsensibles Kind neigt zur Überreizung.

Getty Images

Ein Fakt vorweg: Die wissenschaftliche Forschung zur Hochsensibilität steht noch am Anfang. So existiert bis heute keine eindeutige, allgemein anerkannte Definition. Unbestritten ist jedoch: Hochsensibilität ist ein psychologisches und neurophysiologisches Phänomen. Sie betrifft Seele, Körper und Nervensystem. Hochsensibilität ist keine Krankheit oder Störung, sondern eine Wahrnehmungsbegabung, Wesenseigenschaft, Ausprägung und Charakterzug. Aus diesem Grund gibt es keine «Diagnose».

Philippe Hollenstein, Sie sind unter anderem Berater für Hochsensible. Ihnen ist wichtig zu betonen, dass Hochsensibilität keine Störung oder Krankheit ist und deshalb auch nicht «geheilt» oder «beseitigt» werden muss.

Das stimmt. Hochsensibilität wird oft mit etwas Negativem in Verbindung gebracht. Dabei können Hochsensible schon im Kindsalter so gut unterstützt und bestärkt werden, dass die Hochsensibilität viel mehr ein Segen als sonst was ist.

Bevor wir tiefer in die Materie gehen, was heisst Hochsensibilität überhaupt?

«Die» Hochsensibilität gibt es nicht – denn sie existiert in verschiedenen Ausprägungen. Allerdings gibt es vier Kriterien, die grundsätzlich auf Hochsensibilität hinweisen. Treffen alle vier zu, liegt mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit eine Hochsensibilität vor.

Welche vier Kriterien sind das?

Die erste ist die emotionale Intensität, sowohl schöne als auch schwierige Gefühle werden sehr intensiv erlebt. Das zweite Kriterium ist die Übererregbarkeit. Das heisst, das Reize und Wahrnehmungen ungefiltert auf einen einstürzen. Das führt dazu, dass das Nervensystem deshalb fast immer angespannt ist. Der dritte Punkt ist die gründliche/tiefe Informations-Verarbeitung. Wahrnehmungen und Erlebnisse werden differenziert begriffen und sorgfältig und tief verarbeitet, sie hallen lange nach. Das vierte Kriterium ist die sensorische Empfindsamkeit. Einer oder mehrere Sinne reagieren stark auf Eindrücke: visuelle Reize, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, Berührungen und/oder Übernatürliches.

Wann zeigen sich für gewöhnlich erste Symptome und wie sehen die aus?

Eine Studie, dir vor ein paar Jahren erschienen ist, wies auf, dass schon rund 20 Prozent der Säuglinge Merkmale zeigen. Sie sind empfindsamer als andere Babys, sie überreizen schnell und spüren sehr stark die Schwingungen des Umfelds. So kann es gut sein, dass sich ein hochsensibles Baby auf dem Arm einer Bezugsperson, die nervös ist, nicht beruhigen lässt. Anderseits kann es aber sein, dass es sich auf dem Arm sehr schnell beruhigt. 

Was für Reize sind das, die Säuglinge überreizen können?

Sehr oft sind es Geräusche, Lichtquellen und Gerüche. Man hat übrigens rausgefunden, dass Hochsensibilität vererbbar ist. Oft ist mindestens ein Elternteil selber hochsensibel, wenn nicht sogar beide. Sind die Eltern nicht betroffen, dann lässt sich mit grösser Wahrscheinlichkeit bei den Grosseltern eine Hochsensibilität finden. 

Hochsensible Kinder brauchen öfters mal eine Verschnaufpause.

Hochsensible Kinder brauchen öfters mal eine Verschnaufpause.

Getty Images

Wie zeigt sich Hochsensibilität später im Kleindkindalter?

Nehmen wir als Beispiel einen Spielplatz: Wenn ein hochsensibles Kleinkind auf einen Spielplatz kommt, wo es laut ist, wo viele Kinder spielen und ganz allgemein viel los ist, kann das Kind den Impuls spüren, sich zurückziehen zu wollen. Vor allem dann, wenn es ein introvertiertes hochsensibles Kind ist. Jetzt kann es aber auch sein, dass es zur Gunst der Geselligkeit den Impuls unterdrückt und sich ins Spiel begibt. Das ist nicht unbedingt verkehrt. Im Gegenteil. Es ist sehr gut möglich, dass das Kind viel Spass und Freude im Spiel entwickelt. Im Gegensatz zu anderen Kindern ist es danach aber wahrscheinlicher, dass es überreizt ist und zur Verarbeitung der vielen Informationen (Reize) Erholung brauchte. In diesem Fall ist es wichtig, dass es genug Raum und Zeit bekommt, runterzufahren.

Wie macht sich eine Überreizung bemerkbar?

Das ist natürlich unterschiedlich. Die einen Kinder erstarren förmlich. Sie sind nicht mehr zugänglich, sie sind in einer anderen Welt. Eine andere Reaktion ist die Flucht. Das Kind verschwindet in sein Zimmer oder sonst an einen Ort der Ruhe. Es kann aber auch sein, dass sich die Überreizung in Form von Wut und Aggressivität zeigt.

Man sagt hochsensiblen Kindern nach, dass sie sehr wählerisch sind. Zum Beispiel beim Essen. Soll man als Eltern gelassen reagieren oder das Kind dazu motivieren, auch Neues zu probieren?

Was nicht funktioniert ist Druck. Setzt man Druck auf, wird das Kind wahrscheinlichGegendruck geben oder mit Rückzug oder Wut reagieren. Der Preis, den es dafür aber zahlt, ist hoch. Das Kind wird sich nicht gut fühlen und auch Eltern sind frustriert. Tatschlich haben hochsensible Kinder sensible Gescmacksknospen. Es ist gut möglich, dass es heute etwas nicht mag, was es in einem halben Jahr gern bekommt. Genau so möglich ist es, dass es die ansonsten immer geliebte Spaghettisauce nicht essen will, weil sie dieses Mal etwas mehr von einem spezifischen Gewürz drin hat. Oft beobachte ich auch, dass Kinder auf Konsistenzen reagieren. So kann es sein, dass ein hochsensibles Kind rohe Rüebli super findet, sind diese aber püriert in einer Suppe, mag das Kind keinen Löffel davon essen. Allgemein rate ich, Kinder sanft zum Probieren zu motivieren. Und sie schon früh beim kochen miteinzubeziehen. 

 

Philippe Hollenstein

Philippe Hollenstein ist zertifizierter Berater für Hochsensible, Sozialarbeiter FH und hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in Schulsozialarbeit/Schulwesen. 

ZVG

Wie geht es hochsensiblen Kindern bei der Einschulung?

Der Eintritt in den Kindergarten kann herausfordernd sein. Alles ist neu. In Gruppen fühlen sich introvertierte Hochsensible zuerst eher unwohl und unsicher. Sie ziehen sich zurück und beobachten. Sie brauchen Zeit, um für sich herauszufinden, was hier alles läuft, wer ein Freund, eine Freundin werden könnte und wer es nicht so gut mit ihnen meinen könnte. Hochsensible Kinder sind sehr beziehungsorientiert. Sie brauchen eine starke Bindung zu ihren Bezugspersonen, um sich sicher zu fühlen. Sicherheit ist also hierbei ein sehr zentrales Stichwort.

Soll man das Kind dann dazu motivieren, auf andere Kinder zuzugehen oder soll man ihm die Zeit lassen, die es braucht?

Oft funktioniert es sehr gut, wenn andere Kinder das hochsensible Kind zum spielen auffordern.Hilfreich kann sein, mit der Kindergartenlehrperson das Gespräch zu suchen. Diese kann zum Beispiel auch am Anfang in der Gruppe beim hochsensiblen Kind bleiben und sich dann langsam entfernen. Grundsätzlich gilt auch hier: Auf keinen Fall Druck ausüben. Ein hochsensibles Kind soll unbedingt die Zeit bekommen, eine Gruppe für sich zu analysieren und rauszufinden, wo sein Platz ist. Wichtig finde ich auch, dass das Kind ausserhalb des Kindergartens genug Zeit hat, um zur Ruhe zu kommen. Hochsensible Menschen spüren oft ein Dilemma: da ist einerseits das Bedürfnis nach Ruhe, klarer Ordnung und Struktur und andererseits auch die Neugier, Neues und neue Menschen kennen zu lernen.

Ein überreiztes Kind braucht demzufolge vor allem Ruhe? 

Jein. Auch Bewegung und sportliche Aktivitäten sind super, um Reizüberflutungen abzubauen. Auch Atem- und Erdungsübungen bewähren sich. Hier gibt es nicht eine richtige Antwort. Man muss mit dem Kind mitgehen und schauen, was es jetzt grad am ehesten braucht. Das kann heute die Ruhe im Kinderzimmer und morgen der Sport sein. Wenn sie älter werden, kann auch das Aufschreiben der Eindrücke helfen, um wieder in die Ruhe zu kommen.

Ein hochsensibles Kind ist oft perfektionistisch.

Ein hochsensibles Kind ist oft perfektionistisch.

Getty Images

Wie geht es hochsensiblen Kindern während der Schulzeit?

Es kann sehr gut sein, dass ein hochsensibles Kind ohne jegliche Auffälligkeiten prima durch die Schulzeit kommt. Wir beobachten aber auch oft, dass Hochsensible sich in der Schule total zusammenreissen und absolut unauffällig sind. Sie passen bis zur Überanpassung an. Daheim dann entladen sie sich bei der kleinsten Störung wie ein Vulkan. Der ständige Fluss an Informationen überreizt sie so sehr, dass sie daheim explodieren. Das ist sowohl für Eltern als auch das Kind höchst anstrengend.

Man sagt hochsensiblen Schülern nach, dass Sie bei Prüfungssituationen besonders viel Druck empfinden.

Druck- und Stresssituationen sind per se für hochsensible Menschen ungünstig: Sie haben selbst einen hohen Eigenanspruch bis zur Perfektion und wollen alles absolut richtig und genau machen. Weil das so ist, kann es sein, dass sie eher mehr Zeit als andere für die Erledigung von Aufträgen brauchen, was zu noch mehr Druck bei Prüfungen führt.

Was können Eltern, Lehrer und ganz allgemein tun, um ein hochsensibles Kind zu unterstützen?

Positive Rückmeldungen und Bestärkungen sind ganz wichtig. Hochsensible sind für diese besonders empfänglich und brauchen auch ganz viel Zuspruch. Wenn sie diesen bekommen, können sie sich sehr gut entwickeln und ein starkes Selbstbewusstsein aufbauen. Ganz allgemein soll man das Kind in seinem Wesen stärken und ihm sagen, dass es wunderbar ist, so wie es ist. Harmonie ist auch etwas, das für hochsensible Kinder besonders wichtig ist. Was nicht funktioniert ist Druck und negavive Äusserungen im Stil von «reiss dich mal zusammen» und «nimm nicht immer alles so ernst». Das funktioniert auch nicht, weil die Sensibilität ja eben zu seinem Wesen gehört.

Ab wann kann eine Hochsensibilität erkannt werden und an wen sollen sich Eltern wenden, wenn sie den Verdacht haben, dass ihr Kind hochsensibel ist?

Ich rate zu einer Fachperson für Hochsensibilität, die wirklich viel Ahnung vom Thema hat und vorzugsweise selbst hochsensibel ist. Leider verfügen noch wenige Psychologen und Ärzte über das nötige Fachwissen, weil die Hochsensibilität ja eben keine Krankheit oder Störung ist und somit keine Diagnose erfolgen kann. In der Schweiz gibt es zum Beispiel den Verein Netzwerk Hochsensibilität oder den internationalen Verband Neurodiversität. Da findet man auch viele aufgeführte Fachpersonen. Grundsätzlich lässt sich Hochsensibilität schon im Babyalter erkennen. Wenn das Kind aber etwas grösser ist und selber mitreden und seine Welt beschreiben kann, macht es das Ganze einfacher. Ich staune in meiner Praxis immer wieder, wie extrem gut schon kleine Kinder ihre Welt und ihre Hochsensibilität umschreiben können oder einen unglaublichen Blick für Details haben, die anderen nicht auffallen

Philippe Hollenstein ist zertifizierter Berater für Hochsensible, Sozialarbeiter FH und hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in Schulsozialarbeit/Schulwesen. Hollenstein ist ebenfalls Mit-Initiant der Kampagne «Ein Hoch auf Sensibilität» und selber hochsensibel. Mehr Infos zu ihm und zum Thema Hochsensibilität gibts hier.

 

Maja Zivadinovic
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Von Maja Zivadinovic vor 4 Stunden