«Gell, das schaffen wir?», fragt Thomas Graf, 46, den neunjährigen Rino. Der nickt, lächelt – und schwups landet er in der Luft, streckt beide Arme wie Flügel zur Seite und lässt sich vom Megawatt-Frontmann im Kreis herumwirbeln. Denn Rino Kohler, der seit Geburt Zerebralparese hat, besitzt «Flügel us Stahl». So heisst der Song, den die aktuell erfolgreichste Mundart-Rockgruppe der Schweiz für ihn persönlich geschrieben hat. «Mein Lieblingslied», sagt Rino, «ich höre es jeden Tag.» – «Ja, statt zu lernen, liegst du auf dem Bett und hörst Megawatt», neckt Papa Andreas Kohler, 38. Sänger Thomas Graf lacht – es ist bereits das dritte Mal, dass er seinen grössten Fan in dessen Daheim in Pfäfers SG besucht.
«I han Flügel us Stahl | so dass mir nüt passiera cha | au wenni dur dä Sturm muass gah / i bin unverwundbar» – Rino hat in seinem jungen Leben schon viele Stürme erlebt. Den ersten noch im Mutterleib. Im sechsten Schwangerschaftsmonat erleidet er im Bauch der Mama einen Hirnschlag. «Dies haben wir erst erfahren, als Rino einjährig war», sagt Mama Corina Kohler, 38. Die Eltern wunderten sich, weshalb ihr Baby die rechte Körperhälfte nicht bewegen kann. Ein MRI schafft Klarheit. «Darauf war ein schwarzer Fleck zu sehen, der Grund für seine Zerebralparese», sagt Corina. «Als wir die Diagnose hörten, wussten wir nicht, ob Rino je reden oder laufen kann», sagt Vater und Landwirt Andreas. Beides hat sich Rino hart erarbeitet.
«Rino ist im Dorf sehr integriert und akzeptiert. Die Kinder tragen ihn seit klein auf»
Mama Corina Kohler
Megawatt-Sänger Thomas Graf hat im April 2021 von Rinos Schicksal erfahren. Mama Corina postete ein Foto ihres Sohnes an der Kletterwand auf die Facebook-Fanseite von Megawatt. Sie schreibt, dass Rino das Lied «Loieherz» immer auf dem Weg in die Therapie höre und, wenn ihm die Motivation fehle, sie gemeinsam die Songzeilen «I will, i khann, i werda / Kämpfa bis ans Endi vo mim Leba» singen würden. Graf meldet sich daraufhin per Videobotschaft, gratuliert Rino zu seinem Durchhaltewillen und verspricht einen Hofbesuch. «Das fand ich eine sehr schöne Geste», sagt Corina. Und tatsächlich: Im Juni 2021 verspricht der Sänger beim Überraschungsbesuch, Rino einen Song zu schreiben. So entstand «Flügel us Stahl».
Rino braucht ein starkes Kämpferherz. Weil der Drittklässler die normale Primarschule besucht – dies hat er so mit seinen Eltern entschieden –, finden all seine Therapiestunden in der Freizeit statt. «Er ist hier sehr integriert und akzeptiert. Die Kinder tragen ihn seit klein auf, das ist nicht selbstverständlich», erzählt Corina Kohler. «Dennoch hatte Rino vergangenen Herbst eine Krise. Er ist in einem Alter, in dem er realisiert, dass er anders ist als die meisten Kinder und auch dass ihn seine Schwester in allem überholt.» Genau zu diesem Tiefpunkt ruft Thomas Graf an und erzählt, dass der Song fertig ist!
Denn «I han Flügel us Stahl / woni dermit abheba kah / und über jedi Hürda gah / I bin unverwundbar» – «Rino hat viele Herausforderungen, vermeintlich unüberwindbare Mauern vor sich», erklärt Graf, der neben der Musik Vollzeit als Leiter in der Berufsbildung arbeitet, die Zeilen. «In solchen Situationen hilft es, sich auf das Ganze zu fokussieren, nicht nur auf das, was einen hemmt.» – «Als ich das Lied zum ersten Mal hörte, musste ich weinen», sagt Mama Corina. «Das Lied gibt dem Schicksal von Rino, das allein in unserer Gegend mehrere Kinder teilen, ein Gesicht.» – «Ja, das Lied beflügelt nicht nur Rino, sondern auch uns als Familie», sagt Papa Andreas. Zudem ist Rinos Lied «Flügel us Stahl» mittlerweile offizielle Hymne des PC-7-Teams der Swiss Air Force geworden.
«Thomas, du muesch cho go luega!» Rino rennt mit Schwester Lia, 6, zum Stall des eigenen Bauernhofs. In einem Becken haben sie Kaulquappen gesammelt. «Sicher hundert!», meint Rino. Der Rockmusiker hat keine Chance – seine zwei grössten Fans nehmen ihn nonstop in Beschlag, wollen ihm alle Tiere – vom Meersäuli bis zu «Hennä» – zeigen. Nur die 30 Kühe sind schon auf dem Weg zur Alp. «Ihr habt es so schön hier, ihr wächst im Paradies auf», sagt Graf, der aus dem Rheintal kommt und früher seine Sommerferien bei seinem Grossvater auf der Alp verbrachte. Dem zweifachen Vater ist der persönliche Kontakt zu den Fans wichtig. «Das bin einfach ich. Ich habe die Menschen gern und mit Kindern sowieso den Plausch.»
Rino rennt nochmals in den Stall. Bevor Thomas Graf abdüst, möchte er seinem Musikhelden noch seinen «Charra», den Traktor, zeigen. Seit einem halben Jahr kann er dank einem Elektroimpuls-Gerät viel besser lau- fen und Velo mit Stützredli fahren. «Auch die Mistgabel hält er nun mit beiden Händen», erzählt Papa Andreas stolz. Denn eines ist für Rino klar, Mega-Fan von Megawatt hin oder her: Rockstar will er nicht werden. «Ich bin abends immer sehr müde. Mein Traumberuf ist Landwirt wie Papa, da ich all die ‹Chärra› fahren möchte.»