Es ist in der Nacht von Sonntag auf Montag, halb zwei Uhr. Stunden zuvor war Christian Stucki zum Schwingerkönig gekrönt worden, dann folgten Medientermine, Dopingkontrolle und Feierlichkeiten. Statt in die Unterkunft chauffiert zu werden, fährt König Stucki mit dem Velo vom Gelände in die fürs Wochenende gemietete Wohnung in der Zuger Innenstadt – genau wie an den Tagen zuvor.
So ist er, der Stucki. «Ich konnte noch gut geradeaus fahren, habe fast nichts getrunken. Warum also nicht mit dem Velo?»
«Xavier hat schon etliche Male gezeigt, wie Papi den Wicki auf den Rücken gelegt hat»
Cécile Stucki
Es sind Szenen und Sätze wie diese, die Chrigu Stucki seit Jahren zum Liebling der Schwing-Nation machen. Genau wie der unvergessene Siegerkuss auf den Kopf von König Matthias Sempach in Burgdorf 2013, der Stuckis Status als König der Herzen zementierte.
Nun ist Christian Stucki im siebten Anlauf – endlich – auch Schwingerkönig. Mit diesem Titel schafft der Kilchberger-Sieger 2008 und Unspunnen-Champion 2017 den «Schwinger-Grand-Slam» – dieses Kunststück ist vor ihm erst Jörg Abderhalden gelungen.
Dem sonst nie um einen Spruch verlegenen Seeländer fehlen danach tatsächlich kurz die Worte: «Muss ich jetzt etwas sagen?», schnauft er nach dem Schlussgang ins Mikrofon. «Das hier ist jetzt gerade ein bisschen viel.»
Doch es dauert nicht lange, bis er seinen Schalk wiederfindet. Auf die Frage, wieso er nicht Siegermuni Kolin, sondern den Geldwert von 30'000 Franken mit nach Hause nehme, antwortet er: «Bei mir im Garten würde er nur den Rasen vertschalpen.»
Tags darauf ist dieser Rasen vor dem modernen Einfamilienhaus der Familie Stucki in Lyss BE bei Journalisten so begehrt wie bei den Schwingern tags zuvor der Sägemehlring Nummer 7 der Zuger Schwing-Arena. Und er ist auch ohne Siegermuni Kolin «vertschalpet».
Am Vortag findet sich in Stuckis Abwesenheit die halbe Nachbarschaft bei ihm zu Hause ein und verfolgt mit seinen Söhnen Xavier, 6, und Elia, 3, und der Mutter von Stuckis Frau Cécile das Fest am Fernsehen. Plakate mit der Aufschrift «Mega stouz uf di. Endlich König. Dini Nochbere» hängen draussen an der Böschung.
Und nun ist der Rasen besetzt von einer Medienschar, Kameras und Scheinwerfern. Auch die Kinder tollen herum. «Xavier hat heute schon etliche Male vorgezeigt, wie Papi den Wicki auf den Rücken gelegt hat. Und Elia musste hinhalten», sagt Cécile Stucki. Sie und Chrigu lachen. Erst als Xavier ruft: «Papi, darf i de Rase pickle?», interveniert dieser: «Oje, nimm lieber die Gartenschere.»
«Ich habe ganz schön Muskelkater»
Christian Stucki
Stuckis Stimme ist rau, die kurze Nacht ist ihm anzuhören. «Ich habe auch ganz schön Muskelkater.» Kein Wunder. Er liefert zwei Tage lang sportliche Höchstleistungen ab – und überrascht damit alle. Dass mit dem Berner Schwergewicht immer zu rechnen ist, sollte zwar mittlerweile jedem klar sein. Dennoch konnte sein Sieg nicht erwartet werden.
Stucki zieht sich am Emmentalischen Mitte Mai eine Knieverletzung zu – einen Teilabriss des Innenbandes – und gibt erst Anfang August sein Comeback. Beim Bernisch Kantonalen Mitte August schwingt er zwar wieder mit, aber nicht überragend. Und ob Stucki bei Hitze und über zwei Tage und acht Gänge im für einen Schwinger hohen Alter von 34 Jahren gegen die jüngere Konkurrenz bestehen kann, ist fraglich.
Doch Stucki ist fokussiert wie nie und überlässt auch in der Vorbereitung nichts dem Zufall. Auch sein Umfeld zieht mit: In der Woche vor dem Höhepunkt der vergangenen drei Jahre nehmen ihm seine Cécile, mit der er gerade den vierten Hochzeitstag gefeiert hat, sowie seine Eltern Daniela und Willi, Schwester Andrea, Manager Rolf Huser und Konditionstrainer Tommy Herzog alles ab. Sie kochen, organisieren Transporte – und gar Eisbäder vor Ort in Zug.
«Ich sass ziemlich geknickt in der Garderobe, als ich am Fernseher von den Kommentatoren hörte, dass es dennoch reicht»
Christian Stucki
An den wichtigsten Tagen geht dann alles auf. Nur einen bangen Moment hat Stucki in Zug zu überstehen. Nach zwei Gestellten gegen den Innerschweizer Joel Wicki und den Nordostschweizer Armon Orlik rechnet er nicht mehr mit dem Schlussgang. «Ich sass ziemlich geknickt in der Garderobe, als ich am Fernseher von den Kommentatoren hörte, dass es dennoch reicht. Ich war fast ein wenig geschockt!»
Im Schlussgang bekommt er es erneut mit Wicki zu tun, der bis dahin in sechs von sieben Gängen seine Gegner im Eilzugtempo gebodigt hat. Diesmal ist es umgekehrt: Kaum hat der Schlussgang begonnen, hebt Stucki Wicki in die Luft, stellt ihn kurz zu Boden und legt ihn rücklings ins Sägemehl.
Grosse Euphorie auf der Berner Tribüne und Applaus in der ganzen Arena. Jubel zu Hause in Stuckis Wohnung. Der neue König reckt die Arme in die Höhe, sinkt in die Knie und vergräbt die Stirn im Sägemehl. Dann steht er auf, sein Blick noch immer etwas ungläubig, umarmt seinen Gegner Wicki, der sich als fairer Verlierer über seinen Titel als Erstgekrönter freut. Dann lässt sich der König von seinen Berner Teamkollegen feiern – und hat gar noch Kraft für einen Freudentanz.
«Dass ich lange auf diesen Titel warten musste, macht es noch schöner»
Christian Stucki
Einer seiner Berner Kollegen, Kranzgewinner Florian Gnägi, greift danach zu Chrigus Trinkflasche, füllt sie mit Sägemehl des Schlussgang-Rings und überreicht sie seinem Freund, dem König. Als Andenken an die bisher schönste sportliche Geschichte, die dieser schrieb.
«Dass ich lange auf diesen Titel warten musste, macht es nur noch schöner. Und weil es mir mit meinen 34 Jahren fast niemand mehr zutraute, ist die Genugtuung noch grösser.»
Der Sieg von Stucki bringt eine ganze Gegend zum Ausflippen. Am Dienstagabend empfangen Tausende Fans den König der Eidgenossen im Lysser Dorfzentrum. Mit dabei: die Berner Schwinger, Treicheln, Fahnen, Musikgruppen, etliche Dorfvereine – und natürlich Stuckis Freunde und die ganze Familie.
Nun realisiert auch Vater Willi langsam, was passiert ist. Im Vorfeld rechnet dieser wohl nicht mit dem Sieg, als er verkündet, er werde von Zug aus zu Fuss heim nach Diessbach bei Büren BE laufen, sollte sein Sohn König werden. Diesen Marsch bleibt er noch schuldig.
Gut, dass Christian Stucki noch lange nichts vom Rücktritt wissen will. Aus Pratteln BL, wo das Eidgenössische 2022 stattfindet, hätte es Willi Stucki zumindest ein bisschen weniger weit.