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Unterwegs mit dem Kinderheld

Marius Tschirky lehrt Kinder zivilen Ungehorsam

Als Marius Tschirky die Jagdkapelle gründet, ist er längst eine Berühmtheit im Wald. Über eine ungewöhnliche Karriere, die mal schiefging, dann Kinder begeisterte – und gar nicht besser sein könnte.

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Marius Tschirky  Schweizer Musiker 2019

Beim Waldkindertag in Zürich hängt das junge Publikum Jagdkapellen-Chef Marius Tschirky eine Stunde lang an den Lippen.

Kurt Reichenbach

Der Bär kommt aus dieser dunklen Höhle an die frische Luft, hält seinen dicken Bauch, zündet sich eine selbst gedrehte Zigarette an und bläst eine Rauchschwade hinaus. «Heiss? Nein, im Fell ist es nicht so heiss, wie es aussieht.» Thomas Szokody, oder Tombär, wie er unter Jägern heisst, trägt nach dem Auftritt von Marius & die Jagdkapelle im Kellergewölbe noch immer sein Pandabären-Kostüm. So hat er eine Stunde lang hinter dem Keyboard Musik gemacht und davor zur Gaudi der Kinder die absurdesten Verrenkungen zwischen Breakdance und Kasatschok vollführt.

Dabei ist Tombär ja gar nicht die Hauptfigur dieses sankt-gallisch- appenzellisch-aargauischen Quintetts, sondern neben Bassist Hans «Bärechrüsler» Kühne, Schlagzeuger Christian «Supertreffer» Bührle und Gitarrist Christian «Wisl» Hugelshofer einer von vier Komplizen von Marius Tschirky, dem Chefjäger, Tänzer, Texter und Sänger dieser schrägsten und lautesten Kinderband der Schweiz. Der steht jetzt schweissüberströmt hinter der Bühne. Die Haarsträhnen unter seinem Jägerhut kleben ihm an der Stirn. Der Hut darf nie fehlen, sonst ist der Auftritt zum Scheitern verurteilt. Dasselbe gilt für das Kitsch-Reh, das an jedem Konzert in einer Art Lorbeerkranz auf dem Keyboard hockt, als ob gleich ein Traktor mit Trommelmähwerk angerattert käme. So viel Aberglaube muss sein.

Marius Tschirky  Schweizer Musiker 2019

In Altdorf UR machen sich Wisl, Tombär, Bärechrüsler, Marius und Supertreffer (v. l.) bereit fürs ausverkaufte Konzert.

Kurt Reichenbach

«Nöd ufstrecke! Driirede, wenn er öppis säge wönd! Ihr sind konditioniert, so sait mer däm, wemmer ufstreckt, sobald mer öppis gfrogt wird!» Marius hat den Kindern gerade ein Mindestmass an zivilem Ungehorsam beigebracht. So viel, dass ers aushält in dieser Welt. 70 Minuten zwischen Polka, Sirtaki und Disco sind durch, bis alle «plemplem» sind. Die einen noch ihre Socken suchen, die anderen ihr Mami.

Das Konzept bewährt sich seit Jahren. Aber es beschränkt sich nicht darauf, dass die Jagdsaison laut ist, die Igel in diesen Liedern in die Disco «kacken» und die Kinder als Ventil «geil» schreien dürfen. Und dabei so verschwörerisch in die Runde schauen, als ob sie daheim gerade den Vorhang angezündet hätten. Es gibt subtile Zwischentöne, und Tschirky holt die Eltern zwischen den Liedern als ironischer Geschichtenerzähler ab. Der Sohn eines St. Gallers und einer Appenzellerin spielt mit der diffusen Aversion gegen den fadengeraden Charakter der Ostschweizer Dialekte, übt mit dem Saal «Brodwooarscht», piesackt Zürcher und Berner. Das geht, weil er verschwenderisch viel Charme hat. Ein Mensch wie ein glühender Magnet. Die Kinder hat er mit einem einzigen Blick im Sack. «Gestern kam ein Bub zu mir. Für den bin ich kein Star. Nur Marius der Jäger. Er hat mich umarmt, gesagt, es sei schön und lustig gewesen. Das ist echt. Wenn sie es langweilig finden, gehen sie auch mal in eine Ecke des Saals und schauen, ob es Spielsachen hat. Die machen dir nichts vor.»

Sein Bubentraum: Ein Leben als Rockstar

Waren da nicht andere Träume? Die Eingebung kommt in der dritten Klasse während des Werkunterrichts. Marius baut sich aus Holz einen Lastwagen, der dem aus der 80er-Jahre-Serie «Ein Colt für alle Fälle» gleicht. «Das Bild im Kopf war: Wenn ich gross bin, fahre ich damit durchs Land und mache etwas auf einer Bühne.» Marius sitzt in seinem Atelier im St. Galler Quartier Riethüsli und erzählt, wie er Rockstar werden wollte. «Mit 13 war ich Bassist einer Band, mit 15 nahm ich die erste CD auf, mit 16 spielten wir am Openair St. Gallen.» Die Band hiess Another Noise. Marius ist Dyskalkuliker, hat eine Rechenschwäche. «Ich kann mit Zahlen nichts anfangen, auch Musiknoten sind für mich einfach Punkte auf Linien. Aber unsere Plattentaufe in der Grabenhalle war ausverkauft. Ich hatte nie einen Komplex, dass ich nicht rechnen konnte. Wenn dir als Teenager so viele Leute zuklatschen, ist dir scheissegal, wie gut du rechnen kannst.»

Er hat das Gesicht seines jungen Vaters im Kopf, «ein Bauleiter mit SP-Schnauz», und der Mutter, Arztgehilfin in einer Praxis, in der Randständige und Junkies ein- und ausgehen, die Anfang zwanzig Eltern werden, mit Freunden ein Bauernhaus teilen, «wo sie jeweils feierten und wir die grosse Freiheit erlebten mit den Kindern, füdliblutt den Bach stauten».

Marius Tschirky  Schweizer Musiker 2019

Verspielt verrücktes Reich der Fantasie: Hier in Tschirkys Atelier in St. Gallen entstehen die Lieder, mit denen Marius & die Jagdkapelle die Kinder begeistern.

Kurt Reichenbach

Marius ist schon damals eine Attraktion für Kinder. Auf Familienfesten spielt er mit Cousinen Mumie, bandagiert sie auf der Toilette mit WC-Papier ein. Als Teenager jobbt er bei den Nachbarn als Babysitter. Die steile Musikerkarriere kommt aber ins Stocken. Auch mit den Bands Monoblond und Swedish ist es nicht die grosse Welt, sondern für gewöhnlich vier mal fünf Meter Bühne unter einem Basketballkorb in einer Turnhalle. Nicht Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll. Höchstens mal eine Kantischülerin abstauben. Ein Freund spielt schliesslich Schicksal. Fragt ihn, ob er an einem Fest für Kinder spielen könnte. Marius kommt so gut an, dass er die Jagdkapelle gründet. Seine Stärken spielt er auch bei der Berufswahl aus. Er geht als einziger Mann auf das Kindergärtnerinnen-Seminar in Amriswil TG. In einem Zeugnis steht: «Liebe Seminaristin Marius Tschirky, es freut uns, dass Sie das Quartal geschafft haben.» Es gibt kein Männer-WC im Seminar. Die Sport-Diplomprüfung muss er im Frauen-Bodenturnen machen. «Mit Hüpfen und Purzelbäumen. Es fühlte sich an wie die Rache der Frauen für viel Unrecht von Männern.» Tschirky lacht. Die meiste Zeit genoss er. Ihm öffnet sich eine Welt. Es ist auch der Schlüssel zu seiner Berühmtheit. Als er vom Interesse einiger Eltern an einem Waldkindergarten hört, meldet er sich. Und wird zum Pionier in der Schweiz. Die Journalisten stehen sich zwischen Bäumen in der Notkersegg in St. Gallen auf den Füssen herum. Der erste Waldkindergarten – geführt von einem Mann, der eine Kinderband hat – ist eine Story. Sogar die italienische «Vogue» porträtiert ihn.

Im Wald ist der Jagdkapellen-Chef leise

Im Wald bezahlt er Lehrgeld. Wenn es regnet, kalt ist, die Kinder zittern, der Leim gefriert. «Wir wurden zum Politikum. Alle schauten mit Argusaugen, was diese Kinder können und was nicht.» Irgendwann ist das Getöse vorbei. Auch Marius ist im Wald leise. Ein Pädagoge, kein Clown. Jedes Rascheln kann er bald einem Tier zuordnen, riecht den Fuchs, sagt den Bäumen Hallo. «Nach einer Zeit wurde ich selber ein wenig zu Wald.» Einer mit schützenden Armen statt knorrigen Ästen. Später findet er Töne und Wörter für diese Zeit.

«Went chalt häsch, denn mach ii es Füürli a für di und sitze zu dir hii und hebe dii ganz fii, went Angst häsch, denn stohn ii ganz nöch vor di hii und mach mi gross für di, und denn goht d Angst verbii.»

Marius Tschirky  Schweizer Musiker 2019

Fantasie im freien Lauf: Aus seiner Zeit mit dem Waldkindergarten schöpft Marius Tschirky all die Ideen für die Jagdkapellen-Songs.

Kurt Reichenbach

Tschirky, der einst für den WWF den Luchs im Toggenburg wieder ansiedeln will und in Schulzimmern referiert, bis ein Bauer mit dem Traktor sein Auto rammt, hat die Waldkindergärten nach vielen Jahren anderen überlassen. Er gibt Pädagogen aber Kurse. Daneben schreibt er Hörspiele, Hörbücher. Er ist Teil einer sechsköpfigen Patchwork-Familie. Da muss etwas reinkommen. Auch die anderen vier der Jagdkapelle haben Jobs. Selbst Wisl, der in einem Paralleluniversum Gitarrist von Trauffer ist, dem Mann, der den Leuten in seiner Tracht mit Edelweiss vermittelt, was Heimat ist. Wisl spielt im ausverkauften Hallenstadion, «dann tanzt er mit uns voll hohl vor 100 Kindern». Marius schwankt, wenn er an Trauffer denkt. Natürlich würde er nicht Nein sagen, im Hallenstadion zu spielen. «Wenn er kommt, streckt er nur noch die Hände aus, dann zieht ihm einer die Gitarre an. Das ist ein Bubentraum.» Mit dem Song «Kubelwald» hat er sich vor Jahren mit folkloristischen Tönen probiert, es dann doch gelassen. Er fragt sich manchmal, was an den Kreuzungen des Lebens passiert. Und sagt sich, das alles einen Sinn hat.

Lieber von null auf dreitausend als lange überlegen

Richtig Kasse macht in diesem Kindermusik-Geschäft vor allem Andrew Bond, der Mann der zarten Töne. Im Gegensatz zu ihm sind die Knalleffekte der Jäger, die musikalisch auch Erwachsene begeistern, ein wilder Ritt. Nur: Bond hat 700 000 CDs verkauft, vier Angestellte – er punktet auch bei den Freikirchen. Eine Handvoll andere wie die Jagdkapelle, Linard Bardill und Silberbüx teilen den Rest unter sich auf. Ja, die Jäger hatten Rockstar-Träume. Jetzt sind sie zwischen 38 und 47 Jahre alt, Gartenbauingenieur, Personalchef bei einem Grossverteiler, Verkäufer eines Papierhändlers, machen sich vor Kindern mit einer Überdosis Ironie zum Pandabären. Aber ist das nicht besser als alles andere? Sie sind Freunde, lieben ihre Musik. Es ist gut so. Marius sagt: «Ich überlege nicht zu viel in meinem Leben. Kindergärtner? Klar, sagte ich. Eine Frau aus Zürich mit drei Kindern heiraten? Mach ich. Von null auf dreitausend. So funktioniere ich. Im grossen Ganzen habe ich es nicht schlecht getroffen.»

Im Elefantenbach-Wald in Zürich. Es ist Anfang Mai. Internationaler Tag des Waldkindergartens. Kurz bevor es noch einmal schneit, haben sich ein paar hundert Menschen aus ganz Europa versammelt. Freunde der Natur, Waldpädagogen. Hippie-Groove. Für Fenja, Yamira und Lion hat Marius auf einem Baumstrunk gerade Theater improvisiert. Mit einem Zweig als Körper eines Dachses und einem leeren Baumnüsschen als Kopf. Danach spielt er vor dem Publikum die Songs vom Specht und vom Dachs Adalbert. Das sind für ihn Evergreens. Für die Kinder ist das immer neu. Seine Fans entwachsen ihm, er sucht stets neue.

Beim letzten Lied geht er singend ins Gebüsch. Mitten im Wald verabschiedet er die letzten Kinder, bleibt alleine stehen. Ein Ast mit grünen Blättern verdeckt seinen Oberkörper. Unten sieht man nur die Jägersocken in den Wanderschuhen.

Er ist wieder ein wenig Wald. Still. Und ganz bei sich.

Von Christian Bürge am 22. Mai 2019 - 15:29 Uhr