Eines der Werke, die Albert Anker einst malte, zeigt das Porträt der 17-jährigen Rosina Probst. Auch sie lebte in Ins BE, dem Seeländer Dorf, in dem der beliebteste Schweizer Maler des 19. Jahrhunderts geboren wurde und wo er bis zu seinem Tod viele Jahre seines Künstlerlebens verbrachte. Als Anker das Mädchen 1863 porträtierte, zeigte er es mit Ohrschmuck. «Eine Nachfahrin von Rosina Probst kam zu uns und sagte: ‹Ich habe die Ohrringe noch und würde sie euch gerne überlassen.› So erhielten wir die Schmuckstücke geschenkt», erzählt Daniela Schneuwly-Poffet, 60, begeistert. Die studierte Kunsthistorikerin sowie gelernte Papierrestauratorin ist seit 2022 die betriebliche und künstlerische Leiterin des Centre Albert Anker in Ins.
Die Ohrringe können Besucher in dem am 7. Juni neu öffnenden Künstlerhaus in einer kleinen Vitrine direkt neben einer Darstellung des Anker-Bildes von Rosina Probst bewundern. «Das ist natürlich eine wahnsinnig schöne Geschichte, die exemplarisch zeigt, wie tief Albert Anker bis heute hier im Dorf und der Umgebung verankert ist», sagt Schneuwly. Immer wieder kämen Bewohner aus der Umgebung und verwiesen dabei auf Bilder, die ihr Grosi oder den Grossvater in deren Kindheits- oder Jugendtagen zeigen. Kein Wunder, zählt Anker doch zu den bedeutendsten Schöpfern von Kinderdarstellungen. Gut 250 seiner über 600 Werke in Öl zeigen Kinder – alleine oder in Gruppen.
Wann immer ihm die Heranwachsenden seines Heimatdorfes Modell standen und es ihnen dabei langweilig wurde, unterhielt der Maler sie mit handgemachten Puppen. Im Centre Albert Anker können Gross und Klein einige dieser Figuren, die eine Puppenspielerin aus dem Dorf reproduzierte, jetzt sogar bei einem mechanischen Puppenspiel belauschen – sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch. Für Schneuwly ist das Engagement besagter Puppenspielerin ein weiteres Beispiel dafür, «dass sich viele Menschen im Ort mit dem berühmten Sohn sowie dem neu geschaffenen Centre Albert Anker identifizieren».
Das Centre Albert Anker zeigt den Menschen hinter der Kunst
Die Kunsthistorikerin möchte in ihrem Haus nicht nur das klassische Bild des berühmten Malers zeigen, sondern auch den Menschen hinter dem Künstler näher beleuchten. «Einen Albert Anker, wie ihn die breite Bevölkerung nicht kennt: einen humanistisch geprägten Mann, der Bücher in sieben Sprachen gelesen hat, sich für Archäologie interessierte, in der deutschen und französischen Kultur verwurzelt war (er lebte und arbeitete auch in Paris) und der sich mit den gesellschaftlichen, politischen, sozialen und erzieherischen Fragen seiner Zeit befasste.»
Das neu geschaffene Centre Albert Anker ist denn auch kein klassisches Museum in dem Sinne, dass hier die weitherum bekannten Gemälde ausgestellt werden, sondern «ein Ort, an dem unzählige Fotos, Briefe und Zeichnungen Zeugnis davon ablegen, was für ein kosmopolitisch denkender und handelnder Mensch Albert Anker war.»
Allein im Atelier, das sich der Künstler über den Gaden seines Elternhauses – eines stattlichen Seeländer Bauernhauses – einbauen liess, stapeln sich 1200 Bücher in den Regalen; und auf Ankers kleinem Schreibtisch liegt eine aufgeschlagene Bibel auf Hebräisch, darauf das Binokel des Malers, mit dem er die kleine Schrift besser lesen konnte.
Mit rund 6000 Besucherinnen und Besuchern jährlich rechnet Schneuwly im Centre Albert Anker. Anfang Mai wurde auf der Website die Eröffnung für Juni angekündigt. «Seither klingelt das Telefon Sturm», freut sich die Kuratorin und Direktorin. Gemeinsam mit ihrem kleinen Team, zu dem ein Techniker gehört, einer Kommunikations- und Marketingexpertin, die zudem für Fundraising zuständig ist, einem externen Restaurator, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin (die für ein halbes Jahr an Bord ist) und ganz vielen Freiwilligen bereitet sich Daniela Schneuwly-Poffet dieser Tage auf den ersten Besucheransturm vor.
Die Dauerausstellung im ehemaligen Wirtschaftstrakt des Anker-Hauses ist aufgeteilt in 15 Nischen: Jede beleuchtet und vertieft einen anderen Aspekt des Malers: seine Biografie, Familie, Freunde, die Verankerung im Dorf, sein Interesse für Politik, vor allem die damals aktuelle erste Juragewässerkorrektion, sowie Ankers Faszination für Archäologie.
Im Centre begegnen sich Albert Anker und Claude Monet
Besonders interessant sein dürfte für manche Besucher die Gegenüberstellung seiner Werke mit denen anderer international bekannter Maler wie etwa Claude Monet. So zeigt Kunsthistorikerin Daniela Schneuwly Bilder von Booten auf dem Wasser, die einerseits von Anker gemalt wurden und andererseits von seinem Künstlerkollegen aus Paris und Giverny. Ein spontaner Test unter Betrachtern der Bilder liess sogar Schneuwly schmunzeln, meinte doch mancher, das Anker-Bild sei ein Monet oder umgekehrt. Wie sehr der Schweizer Maler seinerzeit international angesehen war, wird aus einem Brief des Holländers Vincent van Gogh ersichtlich, der seinem Bruder Theo 1883 schrieb: «Lebt Anker noch? Ich denke oft an seine Arbeiten, ich finde sie so tüchtig und fein empfunden. Er ist noch ganz vom alten Schlag.»
Wie aufgeschlossen Anker auch gegenüber Neuem war, zeigt sich laut Schneuwly nicht nur darin, dass er so moderne Erfindungen wie eine Schiebetür in sein Elternhaus einbauen liess oder er zu den Ersten gehörte, die ihre gute Stube elektrifizierten, sondern auch darin, dass er und Ehefrau Anna die gemeinsamen Kinder zu Hause unterrichteten. «Das Ehepaar stellte sogar Schulmaterial her, und Albert Anker engagierte sich in der Schulkommission.» All das bekommt man im Centre Albert Anker in der Dauerausstellung im ehemaligen Ökonomieteil des Wohnhauses heute zu sehen.
«Anker war sehr, sehr sparsam»
Daniela Schneuwly-Poffet
Auch von der Sparsamkeit des Künstlers kann man sich ein Bild machen. Für Kohlezeichnungen verwendete er auch kleinste Stücke, fertigte sich Pinsel zum Teil selbst, für ganz feine Pinselstriche beispielsweise aus Rehwimpern. «Anker war sehr, sehr sparsam», weiss die Kunsthistorikerin zu berichten.
Nicht weniger interessant als das historische Anker-Haus mit Atelier, historischer Wohnung und Dauerausstellung ist der neue vom Architekten Marcel Hegg errichtete Kunstpavillon im rückwärtigen Garten. Er soll die historische Wirkungsstätte des Genremalers, Zeichners und Aquarellisten ergänzen und die reichhaltige Sammlung beherbergen. Im modernen Ausstellungsraum werden in der Wechselausstellung «Licht des Südens» Werke von seinen Reisen mit drei Themen gezeigt: zum einen als Maler, der in den berühmten Museen von Florenz und Venedig alte Meister kopierte – und dafür offiziell die Erlaubnis besass. Andererseits der Kartograf und Freilichtmaler.
Das neue Centre Albert Anker ist überwältigend und überraschend, fast erwartet man, dass der Maler jeden Moment zur Tür hereintritt, zum Pinsel greift – und einfach weitermalt.