Alle paar Tage steht Severin Dressen im Menschenaffenhaus seines Zoos und schaut gebannt dem Tun und Spiel der Orang-Utans zu. Minutenlang. Denn bei den Tieren mit dem zotteligen Fell entdeckt der neue Zoo-Direktor Eigenschaften, die er von sich selber kennt. «Die sind immer am Basteln. An allem Neuen und an Tier und Mensch interessiert», sagt der 32-jährige Deutsche. Deshalb fehlte den Menschenaffen etwas Wichtiges, während der Zoo drei Monate lang im Lockdown geschlossen war. «Für Menschenaffen ist jeder Tag mit Besuchern ein zwölfstündiges Kinoprogramm.»
Seit 1. Juli ist Dressen Chef der meistbesuchten Freizeitstätte der Schweiz. Gleich am vierten Arbeitstag wird er mit einem tragischen Ereignis konfrontiert. In der Tigeranlage verletzt Amurtigerin Irina eine 55-jährige erfahrene Tierpflegerin tödlich. «Der schwierigste Moment war, als ich die Mitarbeitenden über den Verlust informieren musste», sagt Dressen. «Ein solcher Vorfall lässt einen die ersten Nächte nicht los.» Besonders berührt hat ihn die grosse Wertschätzung, die der verstorbenen Mitarbeiterin entgegengebracht wurde. «Wir erhielten Mails und Briefe aus der ganzen Welt.»
Zurück im Affenhaus. «Haben Sie ein Lieblingstier im Zoo?», wird der neue Direktor immer wieder gefragt. «Nein. Ich gewinne jedem Tier etwas ab. Auch der splitterfasernackte und doch eher hässlich aussehende Nacktmull hat eine spannende Biologie.»
29 Jahre hat Alex Rübel den Zürcher Zoo erfolgreich geführt.
5400 Tiere leben im Zoo. Fast alle der 370 Arten kann Dressen aufzählen.
1,2 Millionen Gäste kamen 2019.
49 Mit seiner Schuhgrösse hat Dressen keine Mühe, in die Fussstapfen seines Vorgängers zu treten. Seine Körperlänge: 1,98 Meter.
Schon als Knirps ist der Kölner von Tieren fasziniert. Von Erdkröten besonders. «Warum trägt das Weibchen stets das Männchen mit sich herum?», fragt er seine Mutter mehr als einmal. Als er sieht, dass viele Kröten von Autos überfahren werden, hilft er, sie an den Krötenzäunen einzusammeln und sicher über die Strasse zu bringen. Schon damals ist für ihn klar: Ich will in den Zoo! «Tiere sind meine Passion.»
In Berlin und London studiert er Biologie, daneben arbeitet er als Tierpfleger und Kurator-Assistent in Tierparks, setzt sich für Naturschutzprojekte ein. An der Uni Oxford (GB ) erlangt er die Doktorwürde in Zoologie. Seine Dissertation widmet er der Populationsdynamik europäischer Nagetiere. Dann ist er stellvertretender Direktor des Zoos in Wuppertal (D).
Und nun also ist er der Chef. 140 Bewerbungen gingen ein für die Stelle. Martin Naville, Präsident des Zoos: «Severin Dressen hat uns mit seiner fachlichen Kompetenz und seinen menschlichen Werten überzeugt. Er ist sympathisch und visionär, ein Anpacker.»
Keinen Gefallen am Gewählten findet Christoph Mörgeli, 60. Der alt Nationalrat der SVP ärgerte sich auf Twitter, «dass der neue Direktor des Zoos Züri ein Deutscher sein muss». Dressen: «Ich lade Herrn Mörgeli gern zu einem Gespräch in unserem weltberühmten Zoo ein. Ich bin gekommen, um zu bleiben.»
Seine 760 Angestellten hat der leutselige Kölner gleich zu Beginn aufgefordert, Schwiizerdütsch mit ihm zu reden, er hat mit ihnen Duzis gemacht. Wenn er spricht – und das macht er eloquent –, gehören «Hoi zäme» und «öppis» wie selbstverständlich dazu. Einmal sei er irritiert gewesen. Jemand fragte: «Wo sind die Finken?» Dressen schaute in den Himmel. «Ich sehe keine Vögel.» Gemeint waren Hausschuhe.
Daheim ist Dressen in Gehdistanz zu seinem Arbeitsort, dort lebt er mit seiner Frau und den Kindern: Der Sohn ist zweieinhalb, die Tochter kam im Lockdown zur Welt. Während der letzten Vorbereitungsarbeiten für die afrikanische Lewa Savanne wollte der Sohn immer nur an einem Ort spazieren gehen: auf dem Feldweg, von dem aus die Nashörner zu sehen sind. «Da sind wir täglich rauf- und runtergegangen.» Nun, da die Lewa Savanne geöffnet ist, zeigt der Papa der Familie sein neues Reich gern von innen. Fotos mit ihm und seinen Angehörigen will er keine publiziert sehen. Er kennt Zoo-Direktoren, die unliebsame Bekanntschaft mit militanten Tierschützern machten. «Ich bin kein Vegetarier. Doch ich esse nur wenig Fleisch, vom Biobauern aus der Region.»
Der neue Chef hat dieselbe Philosophie wie sein Vorgänger, Alex Rübel: Er will seinen Zoo zu einem Naturschutzzentrum im städtischen Umfeld weiterentwickeln. «Das Ziel ist, die bedrohte Artenvielfalt und Lebensräume zu erhalten.» Das klappe nur, wenn Besucherinnen und Besucher die Natur hautnah erleben können und den Zoo begeistert verlassen. «Wer Tiere kennt, wird Tiere schützen.» Seine nächsten Projekte: eine begehbare Voliere im Pantanal – diese Anlage zeigt einen naturgetreuen Ausschnitt des gleichnamigen südamerikanischen Feuchtgebiets. Und der neue Gorillapark im afrikanischen Regenwald, gleich neben der Savanne. Dressen freut sich, dass seit dem 6. Juni wieder Besucher in die Anlage strömen. Jede der zwölf Wochen Lockdown riss ein Loch von einer Million Franken in die Kasse.
«Einzigartig, sagt Dressen immer wieder auf seinem Rundgang durch die neue Lewa Savanne. Elf Impalas, fünf Nashörner, je vier Giraffen, Säbelantilopen und Zebras sowie drei Strausse sind hier daheim. Alle Tiere hat der Zoo von anderen Tierparks erhalten. Gratis, im Rahmen eines weltweiten Artenerhaltungsprogramms. Die Giraffen stammen aus Holland und Polen, die Nashörner wurden von Israel in einer Cargo-Maschine der Swiss eingeflogen. Die Transportkosten von 160'000 Franken sponserte die Zürcher Kantonalbank.
Dressen bückt sich, liest ein Fötzeli auf, eine Frau beobachtet ihn. «Sind Sie nicht der neue Zoo-Direktor?», fragt sie. «Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.» Dressen nickt. «Grüezi, gefällt Ihnen die Anlage?» Nun nickt die Frau, macht ihm ein Kompliment für die «schönen Haare, das Huppi kommt Ihnen gut». – «Die wollen gepflegt sein.» Dann erzählt der Direktor, dass es Wochen gedauert hat, bis sich die Tierarten in der Savanne aneinander und an Menschen gewöhnt hatten. «Doch nun liegen die Impalas entspannt da. Ein gutes Zeichen, sie fühlen sich wohl.» – «Sie wissen aber viel», sagt die Frau. Dressen schmunzelt. «Ich bin eben zooverrückt.»