Donghua Li trauert am Grab seines Sohnes Janis.
Als Janis Ruilong Li am 20. August 2019 stirbt, ist er sieben Jahre, drei Monate und zwei Tage alt. Er ist 121,8 Zentimeter gross und wiegt 20,7 Kilo. Janis wäre wohl ein guter Kunstturner geworden. Wie sein Papi. Fünf Tage vor seinem Tod gilt der Kleine als vollkommen gesund. Donghua Li, 53, geht mit seinem Sohn wegen eines geblähten Bauches zum Arzt. Wenig später die schockierende Diagnose: Krebs. Vier Tage später ist Janis tot. Gestorben nicht an den Tumoren, sondern innerlich verblutet, nach einem Routineeingriff zur Vorbereitung der Chemotherapie.
«Ich habe mich tausendmal gefragt, warum», sagt Donghua Li. «Warum er? Warum jetzt?» Mittlerweile glaubt er, die tagelangen Untersuchungen und Biopsien waren einfach zu viel für den krebsgeschwächten kleinen Körper des Buben. «Niemand trägt Schuld an dem, was geschehen ist», sagt Donghua. Er steht in der Tür von Janis’ Kinderzimmer zu Hause in Adligenswil LU. Es ist seit zwei Jahren unverändert. Eine Nintendo-Switch-Konsole liegt auf dem Schreibtisch, ein unfertiges Puzzle. Am Schrank hängen zwei Kinderzeichnungen. Janis’ Eltern sind getrennt, der Bub lebte beim Papi, war jedes zweite Wochenende bei seiner Mutter und seinem vier Jahre älteren Halbbruder.
Jeden Morgen geht Donghua Li an der offenen Tür des Kinderzimmers vorbei, das direkt neben seinem Schlafzimmer liegt. Jeden Morgen dreht es ihm den Magen um. «Irgendwann habe ich beschlossen, dass ich ab sofort, wenn ich an Janis’ Zimmer vorbeigehe, kurz stehen bleibe und mich an etwas Schönes mit ihm erinnere.» So weichen Wut, Schmerz und Trauer – beziehungsweise «das unendliche schwarze Loch, in dem ich mich befand», wie Donghua sagt – langsam der und der Dankbarkeit. «Ich habe aufgehört, nach dem Warum zu fragen, und akzeptiert, dass ich keine Antwort darauf bekomme», sagt Donghua Li. Und: «Janis ist tot. Aber ich lebe weiter. Ich muss. Und ich darf. Ich darf wieder lachen und Freude haben. Und ich darf zwischendurch traurig sein.»
Gerade gestern habe er mit seiner Mutter in China telefoniert, und sie hätten sich gefragt, wie Janis wohl heute aussehe. Am Tag nach seinem Tod wäre er in die Schule gekommen. «Jetzt ginge er schon in die dritte Klasse, könnte lesen und schreiben.» Der Kindergarten, in den Janis ging, liegt neben Donghua Lis Wohnung. Lange war jedes Kinderlachen, das herüberdrang, ein Stich in sein Herz. «Heute lächle ich, wenn ich es höre.»
Dann schaut er Fotos seines Sohnes an. «Ich verspüre eine tiefe Dankbarkeit für die Zeit, die wir zusammen hatten. Vielleicht hatte Janis seine Aufgabe, und die hat er erfüllt.» Wenn Donghua Li von seinem Sohn spricht, liegt viel Wärme und Liebe in seiner Stimme. Und er tut es so unverkrampft, als wäre der Bub noch am Leben. Wenn er von Jasmin redet, seiner 24-jährigen Tochter aus erster Ehe, spricht der pure Stolz aus ihm. Jasmin studiert Philosophie und Kulturwissenschaft der Antike und hat gerade eine Assistenzstelle an der Uni Zürich erhalten. An Janis’ erstem Todestag sassen Vater und Tochter den ganzen Nachmittag lang auf einem Bänkli bei dessen Grab und haben geredet. «So waren wir drei doch irgendwie zusammen.» Für Jasmin sei Janis’ Tod sehr hart gewesen. «Sie ist so jung, war noch nie mit der Sterblichkeit konfrontiert. Und dann stirbt der kleine Bruder. Das ist sehr schwierig für die ganze Familie.» Vater und Tochter sind einander aber eine grosse Stütze.
Noch etwas hilft Donghua Li in der schweren Zeit: Golf. Zwar trainiert der Olympiasieger, Welt- und Europameister am Pferdpauschen nach wie vor täglich in seiner Paradedisziplin. Er arbeitet als Sportexperte bei der International School in Altdorf, absolviert Show-Auftritte, gibt Turnstunden und Seminare. Genauso viel Zeit investiert er allerdings in den Golfsport. «Mich faszinieren der sportliche wie der mentale Aspekt», sagt Donghua. «Man braucht Kondition, aber auch Präzision und Konzentrationsfähigkeit.» So hilft ihm das tägliche Golftraining bei der Verarbeitung von Janis’ Tod. Donghua setzt sich ein neues Ziel: Er möchte innerhalb eines Jahres sein Handicap von 17,4 auf ein einstelliges verbessern, um an der Schweizer Senioren-Meisterschaft teilnehmen zu können. Dafür trainiert er nicht nur auf dem «heimischen» Green in Meggen LU, sondern reist mit seinem Wohnmobil an Turniere in der ganzen Schweiz.
Zusätzlich schwingt er mit anderen Persönlichkeiten die Golfschläger. Daraus ist die «Donghua Li Challenge Tour & Talk» entstanden. Donghua sucht momentan noch eine Produktionsfirma, welche diese für eine Dokumentation begleitet. Im «Talk»-Teil unterhält er sich mit seinen Partnern. «Alle haben ihre eigene Geschichte und Schönes und Trauriges erlebt. Nicht nur ich.» Donghua Li trägt seinen Rucksack – beziehungsweise seinen Golfbag – so, wie er es seinem Sohn einmal beigebracht hat, als dieser lernte, Golf zu spielen: «Jeden Tag ein kleines Stück weiter.»