Zufall? Oder doch Schicksal? Als Jaël Malli, 43, und ihr Mann Roger, 45, im vergangenen Sommer ihre eben geborene Tochter Liala nennen, finden sie es super, dass der Vorname keine Bedeutung hat. «So geben wir ihr ein unbeschriebenes Blatt als Namen mit», sagt die Musikerin.
Ganz so leer ist dieses Blatt dann allerdings doch nicht: Anfangs des 20. Jahrhunderts veröffentlichte eine italienische Schriftstellerin ihre Bücher unter dem Pseudonym Liala. Diesen Kunstnamen hat sie gewählt, weil er das Wort «ala» enthält – der Flügel. Einzahl. Wenn einer fehlt, ist es bekanntlich schwierig abzuheben. Wie passend, dass die kleine Liala genau das war, was Jaël Malli fehlte.
Mit grossen Augen beobachtet das kleine Mädchen seinen älteren Bruder. Eliah, 5, sitzt keine Minute still. Er rennt, hüpft, klettert, spannt ein Plastikband quer durch die Stube. Den Holzturm, den er gerade noch mit seinem Mami bauen wollte, baut Jaël allein. Sie lässt ihren Sohn machen. Eliah ist quasi der erste Flügel – der alleine erst einmal gehörig Schräglage schaffte.
Jaël Malli ist 38, als ihr erstes Kind zur Welt kommt. «Ich war nicht so blauäugig, Friede, Freude, Eierkuchen zu erwarten», sagt sie. Ihre Mutterrolle geht sie so an wie alles andere in ihrem Leben auch: mit dem Anspruch, perfekt zu sein. Sie liest Bücher und Ratgeber, bereitet sich vor. Und dann kommt alles anders.
Eliah ist ein Schreibaby. Wenn er wach ist, weint er. Anfangs muss er fast stündlich gestillt und ständig herumgetragen werden. Nachts wacht er noch jahrelang sechs- bis sieben- mal auf, fängt als Kleinkind an zu schlafwandeln. Jaëls Mann Roger hilft, wo er kann, aber das reicht nicht. Jaël ist am Ende – physisch und psychisch. «Wenn es dir nicht gelingt, dein eigenes Kind zu beruhigen, kommst du irgendwann unweigerlich zum Schluss, dass es deine Schuld ist. Ich fragte mich, ob mir so eine Art Mutter-Gen fehlt, das alle Mamas haben, nur ich nicht.»
Heute bezeichnet Jaël Eliah als «meinen Buddha». «Die Zeit nach seiner Geburt war eine harte, aber wichtige Lektion für mich.» Denn all die ho- hen Ansprüche, die sie bis dahin an sich selbst hat, als Mutter, Partnerin, Musikerin, kann – nein, muss – man in einer Situation wie dieser vergessen. «Es geht nur noch da- rum, sich irgendwie über Wasser zu halten.» Jaël Malli macht etwas, womit sie sich bislang schwertat: Sie holt Hilfe, bittet Therapeuten, Mental Coaches und eine Hebamme um Rat.
Der Lockdown entpuppt sich für die kleine Familie als Segen. Jaël: «Er hat alles entschleunigt, wir verbrachten viel Zeit zusammen.» Ihr Körper, geschwächt von zwei Bandscheibenvorfällen, beginnt zu heilen. «Ich konnte mich wieder richtig bewegen, mit Eliah toben – und wieder lachen.» Und sich das bisher Unvorstellbare vorstellen: ein zweites Kind. «Selbst wenn es nochmals so wäre wie beim ersten. Ich war sicher, dass ich die Kraft dafür haben würde.»
Am 25. August 2022 kommt Liala zur Welt. Der zweite Flügel. Der Ausgleich. Jaël nennt sie «eine Heilerin für unsere Familie». Mit ihr macht sie die Erfahrung, die ihr bisher fehlte: «Ich bin in der Lage, mein Kind zu beruhigen, wenn es weint.» Die zweite Lektion für Jaël Malli: «Ich bin nicht der unfähigste Mensch der Welt, wenn ich etwas nicht schaffe.»
Die Selbstzweifel bis hin zu Selbstverletzungen und depressiven Phasen haben die Musikerin in der ersten Hälfte ihres Leben lange begleitet. Sie waren oft Grundlage für die melancholischen Songs ihrer Erfolgsband Lunik. Mit der Solokarriere, der Liebe und schliesslich der Familie kam Stück für Stück mehr Positivität in ihr Leben. Ein Leben, in dessen Mitte sie nun steht. Und dieses Leben reflektiert sie mit ihrem aktuellen Album, das passend «Midlife» heisst. Von den «mentalen Tauchgängen» in ihren Zwanzigern und Dreissigern bis hin zu den Lektionen, die ihr ihre Kinder erteilen.
Liala hat den Nuggi verloren, verzieht ihr Gesichtchen. Sofort ist Eliah zur Stelle, hebt ihn auf und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. «Er hat sich schon lange ein Geschwisterchen gewünscht. Nun ist er ein so stolzer grosser Bruder», sagt Jaël. Sie sammelt einen Bauklotz ein, schüttelt den Kopf, legt ihn wieder hin. Aufräumen kann sie auch später noch. «Ganz weg ist er noch nicht, der Perfektionismus. Aber ich habe Frieden geschlossen mit mir selbst.» Was dieses halbe Leben sie gelehrt hat: «Es gibt dir immer das, was du gerade brauchst.» Mal einen Buddha, mal eine Heilerin. Und einen Flügel nach dem andern.