Minutenlang stehen sie an der Stelle, wo es passierte. Arm in Arm, Vater und Sohn. Heinz Flühmann, 65, und sein 15-jähriger Leonardo. Ihre Blicke schweifen über die sanft rauschende Emme. «Unfassbar, dass dieses Wasser unsere Liebste geraubt hat», sagt Heinz und legt eine Baccara-Rose aufs Wasser. «Jeany, du bleibst eine Heldin.»Tage vorher: Mittwoch, 11. August, 14 Uhr. Jeannette Flühmann, 54, und Leonardo, ihr einziges Kind, geniessen die Sonne auf dem flachen, steinigen Ufer der Emme in der Nähe der Badi Kirchberg BE. Dabei sind auch Jeannettes beste Freundin Karin, 51, deren Kinder und Kollege Michael. Seit vielen Jahren kommen die beiden Frauen hierher, um mit ihren Kindern zu baden.
Im Weisswasser unterhalb der nahen Schwelle springen immer wieder zwei Bälle in die Luft. Leonardo geht und will sie holen. Schon oft haben er und seine Gschpänli unter dem Wasserfall der Schwellenmauer gebadet, es war immer der Plausch. Was er nicht sieht: Das Hochwasser der vorherigen Woche hat dort eine tiefe Mulde in das Flussbett gegraben – es entstand eine Wasserwalze. Diese zieht Leonardo in die Tiefe. Als geübter Schwimmer merkt er sofort: Das ist ernst! Es ist nur noch weiss um ihn. Er schützt seinen Kopf mit den Händen, wenn er Grund spürt, stösst er sich schräg nach oben ab. Dort schreit er um Hilfe, atmet ein – und wird von der Walze wieder in die Tiefe gezogen.
Als es Leonardo zum vierten Mal nach oben spült, kommt seine Mutter, eine gute Schwimmerin, durch das Wasser Richtung Schwelle gerannt. Sie reicht ihm die Hand, doch die Walze packt auch sie. Dreimal kommt sie hoch, dann verschwindet sie für eine Minute unter Wasser. Ein Fussgänger wirft Karins Kollege Michael seine Hundeleine zu. Leonardo kann sie packen, Michael zieht ihn aus dem Strudel. Erschöpft setzt sich Leonardo auf einen Stein. Sekunden später sieht er, wie seine Mutter mit dem Rücken nach oben auftaucht und leblos Richtung Karin und Michael treibt. Auf einer Untiefe versuchen die beiden, die Bewusstlose zu reanimieren. Auch eine Fussgängerin leistet Erste Hilfe. Die Polizei trifft ein, dann kommen Ambulanzteam, Feuerwehr und Rega. Auch die Rettungskräfte können Jeannette Flühmann nicht ins Leben zurückholen. Sie stirbt auf der Unfallstelle.
Zwei Stunden nach dem Unfall läutet es bei Heinz Flühmann in Thörishaus. Der Berner ist Bauunternehmer und Erfinder des Fluhstein-Bausystems – mit diesem hat er auch bei Udo Jürgens und Roger Moore Gewölbeweinkeller gebaut. Nun stehen zwei Polizisten in Uniform vor seiner Haustür. Er denkt, zu schnell gefahren zu sein. Am Stubentisch informieren sie ihn, dass ein Unfall passiert und seine Frau in der Emme ums Leben gekommen sei.
Für die Identifizierung der Leiche fahren die Beamten den schockierten Witwer nach Kirchberg. Oberhalb der Unfallstelle steht ein Sichtschutzzelt der Kantonspolizei, die Verstorbene liegt darin unter einer Notfalldecke. Flühmann kniet nieder, legt die Decke zur Seite – umarmt seine Jeany. Dann gibt er ihr tränenüberströmt ein letztes Müntschi auf die Stirn. Ihr Nasenbein war gebrochen. «Wahrscheinlich hat sie sich den Kopf angeschlagen. Danach konnte sie sich nicht mehr wehren.»
Kennengelernt haben sich Heinz und Jeannette vor 18 Jahren an einer Tanzveranstaltung in Flamatt FR. Sie tanzt unbändig, er neckt sie: «Ig gloube, du hesch e Flick wäg.» Sie: «Du aber o!» Am selben Abend sagt er ihr, er werde sie heiraten. Nach zwei Jahren ist es so weit, sechs Monate später kommt Leonardo zur Welt. Jeannette arbeitet als Telefonistin, nimmt mit ihrer herzlichen Art Reparaturen entgegen. In den letzten sieben Jahren widmet sie sich vollkommen der Familie und pflegt ihre an Parkinson erkrankte Mutter.
«Schatz, ich hab dich immer lieber», sagt Flühmann vor einem Monat zu seiner Frau beim Fest zu seinem 65. Geburtstag. Er wolle nun runterfahren mit der Arbeit – damit sie mehr Zeit hätten füreinander. Jeannette drückt ihren Hene fest an sich: «Ich freue mich!» Für diesen Herbst hatten sie eine Fahrt auf einem Tanzschiff gebucht. Die Asche ihrer Jeannette werden Heinz und
Die Asche ihrer Jeannette werden Heinz und Leonardo über dem Wasser der Sense verstreuen. Noch immer stehen Vater und Sohn am Ufer. Was Heinz Flühmann nicht verstehen kann: Warum hier erst Tage nach dem Unfall ein Schild angebracht wurde – «Achtung, Lebensgefahr durch Wasserwalzen» steht darauf. «An solchen Stellen sollte es einen Rettungsring samt Seil und einen Rettungshaken geben!» Und: «Würden unter solchen Schwellen grosse Natursteine ins Bachbett gelegt, könnten keine Wasserwalzen entstehen.»
Der Vater nimmt seinen Sohn in den Arm. «Leonardo, wir zwei sind ein starkes Team. Wir schaffen das! Jeannette wacht als Engel über uns.» Leonardo schmiegt den Kopf an Papas Schulter, dann flüstert er: «Das Schlimme: Ich kann Mama nicht mehr Danke sagen.»