Meine Freundin leidet seit ihrer Kindheit an Depressionen. Allerdings hat sie die Krankheit nicht immer gleich gut im Griff. Phasenweise geht es ihr gut, doch plötzlich kann alles ins Negative kippen. An solchen Tagen weint sie viel, auch vor den Kindern. Ich frage mich einfach, warum ihr Therapeut die Situation der Kinder nicht thematisiert. Ist das in Ordnung? Leiden Kindern nicht sehr stark oder werden gar ein Stück weit geschädigt, wenn sie ihre Mutter ständig weinen sehen? — Nadja
Liebe Nadia
Für Kinder, deren Eltern an einer psychischen Störung leiden, kann das sehr belastend sein. Das Schlimme: Da sich die meisten Kinder schämen und sich auch nicht getrauen über ihre Probleme zu reden, gehen sie oft unter oder gar vergessen. «Umso wichtiger ist es, dass wir uns um sie kümmern», sagt Kurt Albermann, Chefarzt Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ und Stv. Direktor Departement Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Winterthur. Albermann geht von schweizweit 300'000 betroffenen Kindern und Jugendlichen aus.
300'000! Eine unglaubliche Zahl!
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Das Traurige: Das Risiko, an Depressionen zu erkranken, ist bei Kindern von Eltern mit einer depressiven Erkrankung um das 2- bis 6-Fache erhöht. Bis zu 60% der Kinder von Eltern mit einer Depression entwickeln im Verlauf der Kindheit und Jugend selbst eine psychische Störung.
Insbesondere Kinder von Müttern mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden unter den Auswirkungen. Sie zeigen besonders häufig Verhaltensauffälligkeiten und -störungen im sozialen und emotionalen Bereich.
Umso wichtiger ist es, dass es Menschen wie dich gibt, liebe Martina. Personen, die Alarm schlagen. Denn erschreckend ist, dass häufig nicht mal die Therapeuten der Betroffenen reagieren. Albermann: «Wir wissen aus Untersuchungen, dass die meisten Fachpersonen zwar sagen können, ob ihre Patient*innen minderjährige Kinder haben, doch mehr als die Hälfte wusste nicht wie es diesen geht», sagt Albermann.
Fatal ist, dass Kinder sich gerne die Schuld für die Probleme ihrer Eltern geben. Sie glauben, dass Mami weinen muss, weil sie das Zimmer nicht aufgeräumt oder das Gemüse nicht aufgegessen oder mit dem Geschwisterkind gestritten haben. Es ist daher entscheidend, dass Betroffene ihre Kleinen von der Schuld freisprechen und sie altersentsprechend über ihre Erkrankung informieren.
Doch Albermann warnt: «Nur zu sagen ‹Mami muss einfach weinen, Ihr seid nicht schuld daran› hilft nur zum Teil. Viele Kinder können das nicht einordnen, fühlen sich hilflos und machen sich Sorgen. Und die Mutter ist dann je nachdem auch nur eingeschränkt in der Lage, auf deren Bedürfnisse einzugehen und Hilfe für sich selbst oder die Kinder zu holen, sollte das länger gehen oder häufiger passieren», sagt Albermann.
Es empfehle sich, frühzeitig eine Fachperson beizuziehen und als ersten Schritt beispielsweise den Haus- oder Kinderarzt darauf anzusprechen. Es sei wichtig, «sich zu trauen über eine psychische Belastung oder Erkrankung zu sprechen – wie über ein gebrochenes Bein nach einem Skiunfall».
Liebe Nadja, vielleicht kannst du dich ja erkundigen, welche Stelle am Wohnort deiner Freundin dafür zuständig ist. Vermutlich fehlt ihr in diesen Phasen einfach der Mut und die Kraft, sich selbst Hilfe zu holen. Wie wäre es, wenn du ihr vorschlägst, sie zu begleiten?
In Winterthur etwa gibt es ein extra Anlaufstelle für Betroffene, zudem findest du auf deren Website viele nützliche Informationen. Allenfalls ist deine Freundin auch dankbar, wenn du ihr in schwierigen Zeiten die Kinder abnimmst und mit ihnen spielen gehst. Etwas Ablenkung tut ihnen bestimmt gut.
Ich wünsche dir und deiner Freundin viel Glück!
Herzlich,
Romina
Unsere Expertin für Familienfragen
Nie waren Eltern so gut informiert wie heute. Und nie war es schwieriger, im Dschungel aus Ratgebern und Internetforen den besten Weg für den eigenen Nachwuchs zu finden. Unsere Familien-Expertin Romina Brunner hilft, Ordnung zu schaffen. Regelmässig berät die zweifache Mutter und Journalistin die SI-Family-Community zu Themen und Fragen aus dem Familienalltag.