«Liebe Erziehungsberechtigte. Die Frühlingsferien sind vorbei, und die Zeit bis zu den Sommerferien ist wichtig für Ihr Kind. Das Schlusszeugnis ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für den Eintritt in die Oberstufe.» Solche und ähnliche Schreiben flatterten in den letzten Tagen in die Briefkästen oder Mailboxen von Tausenden von Eltern von Sechstklass-Kindern. Die nächsten Wochen werden bereits darüber entscheiden, wie ihre ersten Weichen für die Zukunft gestellt werden. Denn die Einteilung in der Oberstufe ist massgebend für die spätere Lehrstellensuche.
Für den DOK-Film «Mein Leben und der Notenschnitt» hat das SRF vier Kinder aus einer Schulklasse im Kanton Luzern durch das letzte Jahr der Primarschule begleitet. Die Elf- und Zwölfjährigen beschäftigen ihre Hobbys, Freunde, Haustiere, Gamen, Zahnspangen – und vor allem der Stress mit den Noten.
«Es gibt Kinder, die könnens einfach. Ich gehöre nicht zu diesen. Ich bin nicht dumm zur Welt gekommen. Aber ich muss für mein Ziel arbeiten. Dann ist man unter Druck. Sehr fest unter Druck.»
Zum Beispiel Mara. Die Pferdenärrin hat einen grossen Berufswunsch: Tierärztin. Dafür muss sie es ans Gymnasium schaffen. Um direkt nach der 6. Klasse ans Langzeit-Gymi zu wechseln, braucht sie einen Notenschnitt von 5,2. Den hat sie. Aber eben nur knapp.
«Es gibt Kinder, die könnens einfach. Ich gehöre nicht zu diesen. Ich bin nicht dumm zur Welt gekommen. Aber ich muss für mein Ziel arbeiten. Dann ist man unter Druck. Sehr fest unter Druck», sagt sie. Und man muss beinahe mitweinen, wenn man das verzweifelte Persönchen an seinem Schreibtisch sitzen sieht: «Ich muss einen Sechser haben. Ich muss! Ich muss das können. Ich schaffs einfach nicht!»
Tränen gibts auch bei Sven. Allerdings wegen einer entflohenen Schlange. Auf den ersten Blick. Aufs zweite Hinhören geht es allerdings um etwas anderes: «Ich bin viel zu dumm für alles!» Sven ist das Gegenstück zu Mara. Sein Schnitt bewegt sich auf einem knappen Vierer, und er findet, das reicht. «Das ist doch genügend, oder?»
Allerdings langt dies eben nur für eine Sek C, die tiefste Stufe. Sven würde es schon gern eine Stufe höher schaffen, zumal er zu Hause auch die Verzweiflung der Eltern mitkriegt. «So findet er keine Lehrstelle», sagt der Vater. Aber was soll man machen, wenn man sich halt so sehr für Schlangen und Terrarien interessiert, aber so wenig für Hausaufgaben? Schlussendlich bringt Sven sein Zeugnis in einem Güselsack nach Hause: «Das passt!»
«Hast du Angst vor dem Zeugnis?», fragt Imran einen Freund. «Ja», sagt dieser. «Ich auch», sagt Imran. Am meisten fürchtet er sich davor, seine Eltern zu enttäuschen: «Da gibts so einen Blick. Das ist das Schlimmste.»
Imran möchte eine Banklehre machen. Sein Vater richtet ihm ein Konto ein. Für jede Note über Fünf gibts zwanzig Franken. Ob das nützt? Jedenfalls ist Imran am Ende mit seinem Übertritt in die Oberstufe nur so halb zufrieden.
Und dann ist da noch Florina. Auch sie würde gerne ans Langzeit-Gymnasium, kämpft aber mit Ihrer Deutschnote. Deutsch ist nicht ihre Muttersprache, zu Hause wird albanisch gesprochen. Sie lernt viel, strengt sich an. Und verhaut den Deutsch-Test trotzdem.
Ihrer Enttäuschung macht sie zuerst durch Wut Luft – «am liebsten hätte ich das zerrissen und niemandem gezeigt» – am Mittagstisch fliessen dann Tränen. «Es kann halt nicht jeder Arzt oder Pilot werden», sagt die Mutter. Das will Florina ja auch nicht – sondern Lehrerin. Wenn nur diese Deutsch-Note nicht wäre!
«Mein Leben und der Notenschnitt» zeigt aus der Sicht der Kinder, wie sie dieses letzte Jahr der Mittelstufe erleben. Und wirft die Frage auf, ob es denn wirklich nötig ist, dass Kinder schon in jenem Alter so unter Druck stehen müssen.
«Mein Leben und der Notenschnitt - Vom Übertritt in die Oberstufe», Do, 6. Mai 2021, 20:05 Uhr, SRF1.