Wenn ich Fotoalben meiner Eltern durchblättere, sehe ich mich auf fast jedem Foto mit einem anderen Bilderbuch in den Händen. Für Nachschub sorgte meine Mutter. Sie arbeitete als Kleinkinderzieherin und ist – wie ich auch – eine leidenschaftliche Vorleserin. Ein Teil ihrer Schätze – wie sie ihre Sammlerstücke nennt – steht heute im Regal meines Nachwuchses. Viele sind längst vergriffen und höchstens noch in Bibliotheken oder Antiquariaten zu finden. Einige meiner liebsten, noch erhältlichen Kinderbücher möchte ich euch hier vorstellen.
«Brezel» von Margret Rey
Er ist der längste Dackel der Welt und verliebt in eine kleine Artgenossin namens Greta. Doch sie mag keine langen Hunde und bleibt unbeeindruckt, als er sich ihr in Form einer Brezel zu Füssen legt. Nicht einmal, dass er beim Hundewettbewerb den Preis «schönster Hund von allen» gewann, interessiert sie. Doch als Brezel sie dank seiner Länge aus einer brenzligen Situation retten kann, sieht plötzlich alles anders aus. Ich liebe die Retro-Illustrationen dieser Neuauflage. Die amerikanische Erstausgabe «Pretzel» erschien 1944. Was die Moral dieser Story ist – dabei bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht etwas wie: Glück spielt im Leben eine grosse Rolle?
«Ungeheuerlich» von Klaus Baumgart
Ein verspielter Mini-Drachen taucht bei Annas Frühstück auf, stapft durch die Butter, jongliert mit Cornflakes und plumpst platschend in die Kakaotasse. Als Annas Mutter das Chaos bemerkt, versteckt sich der Drache hinter einer Kanne. Ein Drache sei schuld, sagt Anna. «Ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass es keine Drachen gibt», sagt Mutter. Dann klingelt es. Vor der Tür steht ein grosser grüner Drache und fragt: «Haben sie vielleicht meinen Sohn gesehen»? Das kleine, kurze Buch ist in einem verspielten Comic-Stil illustriert. Kinder lieben den Drachen, weil er ungeniert «verbotene» Dinge tut. Nach dieser kindlichen Unbeschwertheit sehne ich mich hin und wieder zurück. Und die Botschaft? Manchmal liegen Fantasie und Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander.
«Ein bunter Hund» von Rob Biddulph
In der «Stadt der Hunde» – sie ist London nachempfunden – tragen alle Bewohner (auch hier sind es Dackel) denselben schwarzen Anzug mit Melone. Nur der bunte Hund passt nicht rein. Er trägt einen Schal in Regenbogenfarben, hört Musik über Kopfhörer und spielt E-Gitarre in einem Orchester, in dem sonst alle Violine spielen. Schweren Herzens macht er sich auf nach «Bellowood». Zu seiner Freude sind dort alle genauso angezogen und crazy wie er. Nur ein Hund trägt Norweger-Pulli und Perret. Er ermutigt den bunten Hund zu seinem Eigensinn zu stehen. Also fliegt er mit der «Wuffhansa» zurück nach London, wo ihn die schwarz gekleideten Dackel so vermisst haben, dass sie ihn mit Jubel empfangen. Die Moral von der Geschicht': Anderssein kann dich zum Aussenseiter machen. Aber auch zum Star!
«Das wasserscheue Krokodil» vom Gemma Merino
Das wasserscheue Krokodil gibt wirklich alles, um mit seinen wasserverrückten Geschwistern mitzuhalten. Doch selbst mithilfe eines Schwimmrings will es einfach nicht klappen. Dann niest das «Krokodil» und spuckt dabei so viel Feuer, dass das verhasste Sprungbrett in Flammen aufgeht. Kein Wunder, dass das «Krokodil» kein Wasser mag! Es ist ein Drache! Ich denke beim Vorlesen an zahlreiche Situationen aus meiner Kindheit zurück, in denen mir andere Buben viel zu wild waren. Wie gerne hätte ich damals Feuer spucken können! Mit der Botschaft kann ich mich sehr gut anfreunden: Versuch nicht, jemand zu sein, der du nicht bist.
«Ein kleines Krokodil mit ziemlich viel Gefühl» von Daniela Kulot
Krokodile scheinen zu den Lieblingstieren vieler Autorinnen und Autoren zu gehören. Dieses Krokodil ist in eine Giraffe verliebt, die «sein allerschönstes Lächeln» nicht einmal wahrnimmt, wenn es auf Stelzen geht. Der Versuch, den Giraffenkopf mit einem Lasso nach unten zu ziehen, kommt verständlicherweise schlecht an. Irgendwann stolpern beide und sehen sich, am Boden liegend, das erste Mal in die Augen. Die Illustrationen erinnern mich an die Farben und Designs der Mailänder Kreativtruppe Memphis aus den 80er-Jahren. Die Story macht klar, was Glück im Unglück bedeutet. Die Quintessenz ist aber viel simpler: Ein Krokodil und eine Giraffe können durchaus zusammen sein.
Spezialempfelung der Redaktion: «Der Prinz auf der Erbse: und andere umgekrempelte Märchen» von Karrie Fransman und Jonathan Plackett
Märchen prägen unser Weltbild. Geschlechterforscherinnen und Soziologinnen kritisieren seit langem das patriarchale und einseitige Bild, das die jahrhundertealten Erzählungen vermitteln. Immer ist die Stiefmutter die Böse, immer rettet der Prinz die Prinzessin und immer sind es Hänsel und Gretel – nie Gretel und Hänsel. Eine willkommene Abwechslung bietet «Der Prinz auf der Erbse». Das Buch stellt das Narrativ von zwölf der bekanntesten Märchen kurzerhand auf den Kopf: Nicht der Prinz hetzt mit einem Stiletto von Dorf zu Dorf, sondern die Prinzessin sucht mit dem gläsernen Pantoffel ihren Aschenpeterl. Und während die Rumpelstelze um das Feuer tanzt, macht sich Schneewittich auf die Suche nach den sieben Zwerginnen. Auch vor anthropomorphisierten Tieren macht das Buch nicht Halt: Der gestiefelte Kater wird kurzerhand zur gestiefelten Katze.
Mit Witz, Humor und der gleichen emotionalen Tiefe wie in der originalen Version erzählen Karrie Fransman und Jonathan Plackett in der Übersetzung von Sophie Zeitz-Ventura unsere liebsten Fabeln und Erzählungen neu. Ohne dass sie in einen abwertenden oder missbilligenden Tonfall verfallen. Die Geschichten vorzulesen fühlt sich nicht an wie ein Rachefeldzug an der patriarchalen Gesellschaft, sondern ein angenehmer Perspektivenwechsel. Mit jedem Umblättern werden die starren Rollenbilder weiter in Frage gestellt. Die Geschichten vermitteln unseren Töchtern, dass sie ihre eigene innere Stärke haben und nicht auf den Prinz in glänzender Rüstung warten müssen. Unsere Söhne lernen, dass es auch als Mann in Ordnung ist, wie Dornrösling von seinem Kuss der wahren Liebe zu träumen.