Frau Märki, ich habe einen Bekannten, der sich nicht traut, seinen Eltern zu sagen, dass er geimpft ist…
Das ist sehr traurig.
Er sagt, wann immer er mit ihnen über Corona diskutiert, werde ihm vorgeworfen, er sei blind, staatsgläubig, unterwürfig.
Dass eine andere Meinung als die seiner Eltern keinen Platz hat, hat Ihr Bekannter vermutlich nicht erst seit Corona erfahren, sondern schon als Kind. Deshalb traut er sich nicht, von der Impfung zu erzählen. Corona bringt Konflikte an die Oberfläche, welche schon vorher da waren.
Das heisst, bei solchen Konflikten geht es im Grunde gar nicht um impfen oder nicht impfen?
Nein. Innerhalb einer funktionierenden Familie sollte man doch Toleranz walten und andere Meinungen gelten lassen.
Wie soll man denn nun aber damit umgehen, wenn man feststellt, dass jemand aus dem nahen Familienkreis Verschwörungstheorien unterliegt?
Sich nicht auf Diskussionen einlassen: «Ich habe eine andere Meinung als du. Ich akzeptiere deine, bitte akzeptiere du meine. Wir müssen nicht weiter darüber reden.» Der Satz «Ich sehe es anders» ist ein wichtiger im Leben und in Beziehungen. Man soll das ehrlich sagen dürfen, aber auch so stehen lassen, und nicht permanent versuchen, das Gegenüber von der eigenen Meinung zu überzeugen.
Gerade dieses Missionieren scheint aber auf beiden Seiten oft so weit zu gehen, dass es irgendwann zum Kontaktabbruch kommt.
In so einem Fall ist es entweder schon zu Beschuldigungen, Bewertungen und Beschämungen gekommen, oder man weiss, wie im Fall Ihres geimpften Bekannten, dass es dazu kommen würde. Weil man das Muster bereits kennt. In diesem Fall kann ein Kontaktabbruch für den Moment das Richtige sein. Das ist aber sehr individuell. Wenn man es schafft, das Thema aussen vor zu lassen, würde ich immer dafür plädieren, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Aber manchmal geht das halt nicht.
Eltern erzählen davon, dass ihre Kinder von den Grosseltern kommen, und Dinge erzählen, wie der Grosspapi habe gesagt, der Papa habe sich einen Chip einimpfen lassen. Was macht man da als Eltern?
Auch hier gehts wieder ums Missionieren, und es spielt dabei gar keine Rolle, ob es nun ums Impfen geht oder um irgend etwas anderes. Ich möchte nicht, dass andere Leute, auch nicht meine Eltern, meine Kinder manipulieren. Da muss man das Gespräch suchen und sehr klar sagen: «Ich möchte das nicht. Und wenn es nicht aufhört, will ich nicht mehr, dass meine Kinder zu euch gehen.» Nicht, weil sie eine andere Meinung haben, sondern weil sie diese anderen aufzwingen wollen.
Und wie erklärt man das den Kindern?
Man sollte ehrlich sein und sagen, dass da innerhalb der Familie andere Ansichten herrschen. Die Frage ist, schaffen es die Eltern, nicht wertend über die Aussage der Grosseltern zu reden. Wenn hier der Tenor herrscht «deine Grosseltern erzählen völlig absurdes Zeug» lernen Kinder eben genau das: Es gibt nur eine richtige Meinung in dieser Familie, andere gelten nicht.
«Ich glaube nicht, dass Corona das Kernproblem ist, sondern dass es Dinge an die Oberfläche bringt, die vorher schon da waren.»
Ich habe noch ein Beispiel aus meinem Umfeld: Eine Freundin von mir ist vom Vater ihrer Kinder getrennt. Sie ist geimpft, er ist totaler Impfgegner. Beide reden auf die Kinder ein.
Auch da werden offensichtlich andere Konflikte über die Impfdiskussion ausgetragen. Dass das über die Kinder gemacht wird, geht gar nicht.
Hier gehts ja aber auch um konkrete Konsequenzen: Der Zwölfjährige kann nicht mit der Mutter ins Ausland, weil er für den Grenzübertritt geimpft sein müsste. Der Vater verweigert die Impfung.
Wenn in diesem Fall kein Dialog möglich ist, zieht die Mutter wohl einfach den Kürzeren. Ich habe in meinem Umfeld Folgendes erlebt: eine Bekannte fuhr mit ihrem Göttibuben Zug, seine Mutter ist totale Masken-Gegnerin, der Bub sagte, er trage keine Maske. Meine Bekannte sagte schliesslich: «Wenn deine Mama das so macht, ist das in Ordnung. Wenn du mit mir Zug fährst, hätte ich aber gern, dass du eine Maske trägst, da ich die Verantwortung nicht übernehmen möchte, wenn wir in eine Kontrolle kommen. Wenn das für dich nicht geht, müssen wir unsere Ausflüge verschieben, bis es keine Maskenpflicht mehr gibt.» Das finde ich eine sehr respektvolle Reaktion.
All diese Beispiele zeigen, wie sehr Kinder instrumentalisiert werden in dieser Diskussion.
Ja, das höre ich auch immer wieder von Lehrpersonen. Es ist traurig, wie sehr die Ideologie der Eltern über die Integrität von Kindern gestellt wird.
Wie prägen diese Corona-Diskussionen, welche in den vergangenen zwei Jahren wohl jedes Kind miterlebt hat, diese in der Zukunft?
Ich glaube, die vergangenen Jahre waren eine Zeit, in der Kinder viele Leute, insbesondere aber ihre Eltern, als sehr unsicher erlebten. Kinder finden es schlimm, wenn ihre Eltern unsicher sind. Manche gehen besser damit um als andere. Dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien dermassen hohe Zuläufe verbuchen, spricht aber dafür, dass es hier wirklich ein Problem gibt. Wobei ich, wie schon gesagt, nicht denke, dass Corona an und für sich das Kernproblem ist, sondern dass es Dinge an die Oberfläche bringt, die vorher schon da waren.
Gibt es eine Chance, dass Familien, die wegen Corona-Diskussionen auseinander drifteten, nach Ende der Pandemie wieder zusammenfinden, oder bleibt da für immer ein Riss?
Das ist eine spannende Frage, und vermutlich sehr individuell. Die Chance, wieder aufeinander zuzugehen, besteht immer. Dabei müssen beide Seiten einen Schritt auf die andere zu machen, sonst funktioniert es nicht. Wer nur auf eine Entschuldigung der anderen Seite wartet, wird nirgends hinkommen. Und wenn man denn wieder zusammenfindet, wäre es schön, wenn man versuchen würde, die anderen Konflikte, die man offenbar hat, auszutragen.