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Jugendgewalt-Experte Allan Guggenbühl

«Viele Jugendliche sind von Messern fasziniert»

Messerattacke in Solingen, immer mehr Angriffe in der Schweiz – was ist da los? ­Jugendgewalt-Experte Allan Guggenbühl erklärt, warum das Messer zunehmend an Bedeutung gewinnt.

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Allan Guggenbühl , Schweizer Psychologe und Psychotherapeut, Experte auf Gebiet der Jugendgewalt, in seinem Studio in Zürich

Allan Guggenbühl ist selbst Vater von vier Kindern.

Nik Hunger

Es hätte eine friedliche 650-Jahr-Feier werden sollen. Für drei Gäste im deutschen Solingen endet sie tödlich. Ein 26-jähriger Syrer attackiert Feiernde mit einem Messer. Auch in der Schweiz kommt es vermehrt zu Messerangriffen – sei es durch Einzeltäter oder Gruppen.

Der schottisch-schweizerische Psychologe Allan Guggenbühl (72) beobachtet das Phänomen «Jugend und Messer» schon lange. Seine Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen verlange viel von ihm persönlich ab. Aber eigentlich tun sie ihm leid. Sie seien hilfsbedürftig. Und diese Hilfe wolle er ihnen bieten, allerdings: «Sie müssen Einsicht zeigen.»

Allan Guggenbühl, trauen Sie sich überhaupt noch auf die Strasse?

Ja, ich habe kein Problem damit. Ich beschäftige mich intensiv mit dem Thema Gewalt und habe schon in Ländern wie Mexiko gelebt. Dort ist es wirklich gefährlich.

Ganz ohne Sorgen also?

Es kommt darauf an, in welcher Umgebung ich bin. Ich meine aber zu merken, wenn eine Situation gefährlich wird. Darum bin ich nicht verängstigt. Das sage ich jetzt als Mann.

In Europa sind wir es uns nicht gewohnt, angegriffen zu werden. Nun gibt es nach einer Messerattacke in Solingen drei Tote und acht Verletzte. Was passiert da?

Mich überrascht das nicht. Ich arbeite mit Jugendlichen verschiedener Kulturen, etwa aus Nordafrika oder dem Balkan. Ihre Faszination für Waffen fällt mir auf, besonders für Messer. Oftmals repräsentieren sie den Kontakt zur Heimat oder stehen für eine bestimmte Weltanschauung. Viele schmuggeln illegale Messer in die Schweiz und sind stolz, dass ein Verwandter sie organisiert hat.
 

Eine Faszination für Waffen und Gewalt auszuüben – das ist ein Unterschied!

In der Schweiz und in Deutschland leben viele Jugendliche, die aus Maghreb- und Balkanstaaten kommen. Nicht wenige empfinden die westliche Kultur als dekadent. Das teilen die Jugendlichen, mit denen ich zu tun habe, ganz offen mit. Sie sind der Auffassung, dass wir nicht mehr bereit sind, für unsere Werte einzustehen. Wir würden uns sogar für unsere Religion schämen, negieren, dass wir vom Christentum geprägt sind. Sie seien jedoch im Gegensatz zu uns stolz auf ihre Kultur und Geschichte und uns deswegen überlegen.

Aber sie sind doch freiwillig hier!

Bei vielen Gewalttätern handelt es sich um die zweite Generation, die Eltern kamen hierher, nicht sie. Sie verklären darum ihre Ursprungskultur, klammern sich an ihre Werte, weil sie sich hier verloren fühlen. Unsere fundamentalen Werte werden ihnen nicht vermittelt, sie haben darum das Gefühl, alles sei möglich. In ihrer Ursprungskultur sei alles klarer, die Rolle der Frauen und der Juden zum Beispiel. Sie glauben dann, für ihre Gesellschaftsform und Religion einstehen zu müssen, und drohen fanatisch zu werden.


Dann sollten wir Schweizer besser unter uns bleiben!

Nein, das will ich damit nicht sagen. Aber es ist wichtig, dass wir dafür einstehen, was uns wichtig ist, unsere Werte, Geschichte und Haltungen. Wenn ich mit solchen Jugendlichen arbeite, sage ich ihnen, dass sie in der Schweiz leben und unsere Werte respektieren müssen.

Also ist Gewalt ein Problem der Migranten?

Entscheidend ist, was das Messer für einen Menschen bedeutet. Bei uns in der Schweiz sind Messer vor allem Werkzeuge und nicht Waffen, wie auch das Sackmesser. Sie haben einen bestimmten kulturellen Kodex für sich. Je nach Kultur ist das jedoch anders, weswegen es viele Jugendliche gibt, die in Messern eine Waffe sehen.

Allan Guggenbühl , Schweizer Psychologe und Psychotherapeut, Experte auf Gebiet der Jugendgewalt, in seinem Studio in Zürich

Guggenbühl auf der Couch in seiner Praxis in Zürich.

Nik Hunger

Inwiefern spielen familiäre Verhältnisse eine Rolle bei der Gewaltbereitschaft?

Die Familienverhältnisse sind nicht der Hauptgrund für Gewalt. Ich habe immer wieder mit Jugendlichen zu tun, die Gewalt verherrlichen, während die Eltern unsere Werte teilen. Sie sind verzweifelt, weil der Sohn sich einer Gewaltszene anschloss. Sie seien als Migranten hierhergekommen, haben sich gut assimiliert und verstehen die Radikalisierung ihrer Söhne nicht.

Söhne, keine Töchter?

Ja! Für viele junge Männer steht Gewalt, auch Messer, für Machismus und Männlichkeit. Sie identifizieren sich dann mit einer radikalen Ideologie, weil das der ultimative Beweis ist, 
dass sie jemand sind und etwas gegen die «degenerierte Gesellschaft» machen.

Woher stammt diese Ideologie, wenn nicht von den Eltern?

Während der Jugend entwickelt man eine eigene Identität, distanziert sich von den Eltern. Ausseneinflüsse werden wichtig. Jugendliche werden darum von Haltungen und Ideologien ihrer Umgebung und den sozialen Medien geprägt.

Wie gefährlich sind denn soziale Medien?

Viele Jugendliche leben in einer Blase. Im Internet beschränkt sich der Kontakt auf Gleichgeschaltete, je extremer eine Ideologie, desto grösser der Kick und die Attraktivität. Es geht längst nicht mehr darum, was stimmt, sondern was ihre Subgruppe als Wahrheit hinausposaunt. Bei diesen Jugendlichen besteht die Gefahr, dass sie sich gewalthaltigen Szenen anschliessen.

Welche sind besonders anfällig?

Schwierig zu sagen. Viele haben Grössenfantasien, wollen die Welt verändern, andere sind leicht verdrückt und hoffen auf soziale Akzeptanz in ihrer Subgruppe. Diagnostisch auffällig sind jugendliche Einzeltäter. Häufig sind sie autistisch und fanatisch. Die meisten Gewalttaten passieren aber in Gruppen.

Warum werden Extremisten immer jünger?

Was heisst jünger? Historisch gesehen gab es immer 13, 14 Jahre alte Täter. Die Mafia setzt Jugendliche gezielt für Mordtaten ein, weil für diese noch das Jugendstrafrecht gilt. Die Jugend ist zudem das Alter, wo man beeinflussbarer ist. Jugendliche suchen nach Aufregungen, sind neugierig und glauben oft, dass sie die Welt neu erfinden oder umgestalten müssen.

Deswegen gehen wir doch nicht gleich aufeinander los …

Gesellschaften funktionieren auf der Basis von sozialen Übereinkünften und Vertrauen. Es herrscht zum Beispiel der unausgesprochene Konsens, dass wir uns im öffentlichen Raum in Ruhe lassen und nicht jemandem die Faust geben, weil er uns nicht gefällt. Das ist eine hohe kulturelle Leistung und nicht selbstverständlich. Gemäss historischen Berichten gab es in Zürich vor mehr als 100 Jahren an Samstagen in vielen Beizen und auf der Strasse Schlägereien, das war damals normal.

Also liegt es nicht in unserem Naturell, dass wir einander in Ruhe lassen?

Nicht unbedingt. Natürlicherweise würden wir mit Menschen im Bus oder auf der Strasse Kontakt aufnehmen, wenn uns an ihm oder ihr etwas gefällt oder stört. Unser kultureller Code verhindert das. Wenn wir in ein Tram steigen und es nur einen weiteren Passagier hat, dann setzen wir uns nicht neben ihn. In vielen afrikanischen Kulturen ist das anders, es wird gern geplaudert.

Zurück zum Messer. Ist das Messer eine Art Statussymbol?

Eindeutig! Jugendliche verbinden Geschichten mit ihren Messern, sie erzählen, woher sie stammen, wie sie es organisierten.

Wie reagieren Sie?

Ich weise sie darauf hin, dass sie illegal sind. Sie relativieren ihren Besitz dann in der Regel und behaupten, sie würden sie sicher aufbewahren und nie benutzen.

In den USA ist es akzeptiert, eine Waffe zur Selbstverteidigung zu haben. Brauchen wir das auch?

Das ist keine gute Idee. Ausser man ist trainiert und weiss ganz genau, wie man beispielsweise ein Messer einsetzt. Das Problem ist, dass man bei einem Angriff verängstigt und verunsichert ist. Es könnte eskalieren, den Angreifer provozieren. Legale Pfeffersprays wären eher nützlich. Ein Pfefferspray bei sich zu tragen – das ist für viele Frauen bereits normal.

Das kann doch nicht die Lösung sein, oder?

Natürlich nicht. Bis jetzt kann man sich in der Schweiz fast überall frei bewegen. In vielen Ländern ist das nicht möglich, weil Stadtteile zu gefährlich sind, der öffentliche Raum den Frauen verwehrt wird oder sie sich zu verhüllen haben. Es wird dann behauptet, dass Frauen selbst schuld seien, wenn sie attackiert werden. Sie hätten sich erotisch angezogen oder bewegt. Solche Ideologien stehen oft hinter Attacken wie in Solingen.

Andere Ideologien sind aber doch keine Rechtfertigung für Gewalt.

Absolut nicht! Vertritt ein Jugendlicher eine solche oder ähnliche Ideologie, dann gilt es, ihm ganz klar zu kommunizieren, dass diese Haltung bei uns inakzeptabel ist. Selbst wenn sie sich persönlich unschuldig fühlen. Bei uns hat der Staat das Gewaltmonopol, es gelten Gesetze. Wir als einzelne Individuen dürfen keine Gewalt ausüben.

Ist die heutige Jugend per se eine schlechte? Nein!

Es gibt Untergruppen, die gewaltbereit sind, aber das ist ein kleiner Teil.

Wird diese Gewaltbereitschaft in den nächsten Jahren zu- oder abnehmen?

Ich habe das Gefühl, sie könnte eher zunehmen. Ich hoffe, dass sich die Faszination für Gewehre und Pistolen hier nicht auch noch verbreitet wie etwa in Südamerika.

Das ist deprimierend. Sie selbst sind seit Jahrzehnten in den Schulen unterwegs, besser wird es nicht. Die Lösung kann ja nicht darin liegen, dass wir die Zunahme der Gewalt einfach hinnehmen.

Darum setze ich mich – und viele andere Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrpersonen und andere Menschen – nach wie vor für Gewaltfreiheit ein. Wir neigen dazu, uns als offen und tolerant zu bezeichnen, multikulti und progressiv. Doch wir alle, nicht nur die Schulen, sollten auch die Haltungen und Werte unserer Kultur vertreten, die sich aus unserer Geschichte entwickelt haben und heute als konservativ gelten. Einer Kultur anzugehören, heisst auch, Anpassungsleistungen zu erbringen und Respekt vor den Ahnen zu haben.

Von Vanessa Nyfeler und Yara Vettiger am 2. September 2024 - 07:00 Uhr