Ich leide unter starkem Heimweh, wenn ich nicht zuhause übernachte. Dabei würde ich gerne einmal eine Nacht bei meiner besten Freundin verbringen. Kannst du mir Tipps geben, um das Heimweh zu stoppen? — Lea, 11
Liebe Lea
Eine Nacht bei den Grosseltern, eine Übernachtungsparty bei der Freundin oder ein bevorstehendes Klassenlager – das sind allesamt wunderbare Erlebnisse, auf die sich die meisten Kinder ungemein freuen.
Aber nicht alle. Es gibt Kinder, die schon Tage im Voraus leiden, wenn sie von zu Hause weg müssen. Allein der Gedanke, dass sie eine Nacht nicht im eigenen Bett verbringen, versetzt sie in Panik. Kinder, bei denen neben ihrem Pyjama und dem Kuscheltier noch ein dicker Kloss namens Heimweh im Koffer liegt.
Dieser Kloss hat offenbar auch dich im Griff, liebe Lea. Aber das Gute ist, dass du ein starkes Mädchen bist. Du hast den Mut gehabt, dir Hilfe zu suchen und mir eine Nachricht zu schreiben. Darüber zu reden ist schon die halbe Lösung! Es ist viel besser, als alles mit sich selber auszumachen und still darunter zu leiden.
Habt ihr auch ein Thema, das euch beschäftigt? Dann schreibt ein Mail an romina@schweizer-illustrierte.ch
Spontan frage ich mich, ob es dir vielleicht hilft, wenn du diesen Heimweh-Kloss sichtbar machst. Du kannst aufschreiben, wie du dich fühlst, den Kloss als Kunstwerk basteln oder ihn zeichnen. Vielleicht fühlt sich der Schmerz wie eine Kugel aus Zeitungspapier an. Oder er hat bestimmte Farben. Indem du den Schmerz sichtbar machst, kannst du ihn aus deinem Körper herausholen und entscheiden, wo du ihn neu platzierst.
Vielleicht kannst du ihn zusammen mit deiner Mutter oder einer anderen erwachsenen Bezugsperson verabschieden, in einen Abfallsack stecken und das Heimweh dem Müllmann mitgeben? Oder aber ihr macht ein Feuer im Freien und du verbrennst den Heimweh-Knollen.
Ganz wichtig ist, dass du ein Ritual, bei dem Feuer im Spiel ist, nur in Begleitung eines Erwachsenen machst! Das musst du mir versprechen, liebe Lea! Hier gibts wichtige Infos zur Feuer-Sicherheit.
Genauso wichtig ist es, einen Heimweh-Ersatz zu schaffen. Diesen kannst du ebenfalls malen oder basteln. Eine wärmende Sonne, ein glitzerndes Licht, ein Glücksbringer. Das kann ein Stein sein, eine schöne Kette oder ein Amulett. Du kannst ihm einen Namen geben: Mut-Stein oder Stärkekette - was dir einfällt. Wichtig ist einzig, dass du diesen Glücksbringer vor der nächsten kleinen Reise in den Koffer oder deine Tasche legst.
Wenn du bei deiner Freundin übernachten möchtest, ist es sicher hilfreich, mit ihr und ihrer Mutter darüber zu sprechen, dass du bislang an Heimweh gelitten hast. Das beruhigt dich und die informierten Menschen können dir helfen, wenn das Heimweh doch wieder auftritt. Es kann gut sein, dass das Heimweh nicht sofort komplett verschwindet. Dein Kopf braucht Zeit, um zu realisieren, dass der Heimweh-Kloss jetzt auf dem Müll ist. Das ist ganz normal. Vielleicht könntest du diesen Prozess mit einer Hypnose-Therapie unterstützen.
Liebe Lea, sicher ist es auch hilfreich, wenn du die Gründe für dein Heimweh suchst. Kann es sein, dass du Angst hast, deine Eltern allein zulassen? Befürchtest du, deine Mutter könnte dich vermissen? Falls du mit deinen Eltern nicht über solche Ängste sprechen kannst, darfst du dich an eine andere Bezugsperson wenden. Vielleicht hast du eine Lehrerin, der du vertraust. Oder dein Grosi hat ein offenes Ohr für dich. Hauptsache, du kannst mit jemandem darüber sprechen.
Ein hilfreiches Mittel gegen Heimweh kennt auch Sozialpädagogin Carmen Lahusen: Nimm dir zweimal täglich bewusst Zeit, um an deinen Wohlfühlort zu denken. Das kann dein Zimmer sein, dein Büsi, eine Umarmung mit dienen Eltern. «Dieses Wohlfühl-Ritual kann ein betroffenes Kind beim Einschlafen für sich alleine machen – sei es in einem Klassenlager oder bei einem Gspänli», sagt Lahusen. «Das Mädchen kann sich tagsüber darauf freuen, wenn es dann am Abend in Gedanken 'Heimatferien' machen kann.»
Laut Lahusen ist es zudem hilfreich, wenn du dir gemeinsam mit einer erwachsenen Person einige Bewältigungsstrategien ausdenkst. Auch deine Eltern können mithelfen, dein Heimweh zu bekämpfen. Indem sie sich folgende Fragen stellen:
- Unterstützen ich mein Kind, wenn es auswärts übernachtet oder ins Klassenlager geht? (Kinder spüren Unsicherheiten der Eltern sofort!)
- Gebe ich dem Kind das Gefühl von Liebe und Sicherheit?
- Habe ich mit meinem Kind das auswärts Übernachten oder das Klassenlager vorbesprochen, wie das dann sein wird? (Kinder fühlen sich gestärkt und von ihren Eltern getragen, wenn diese mit ihnen die Abläufe besprechen und ihnen die Angst vor dem Ungewissen nehmen.)
- Möchte ich auch tatsächlich, dass mein Kind selbstständig wird? Unterstützen ich es dabei?
- Haben wir die möglichen Ängste und Unsicherheiten unseres Kindes vor der auswärts Übernachtung oder dem Klassenlager thematisiert? Oder fühlt es sich damit eventuell allein gelassen?
Laut Lahusen ist es wichtig, dass Eltern bei der Heimwehthematik ihrer Kinder den Ablösungsprozess respektieren. Gerade jüngere Kinder bis ca. 10 Jahren haben sich häufig noch nicht so weit von ihren Eltern gelöst, dass sie mehrere Tage ohne ihr Zuhause, geschweige denn ohne ihre Eltern, sein können. Sogar eine Übernachtung bei einem Gspänli kann schon eine grosse Herausforderung sein. «In diesem Fall empfehle ich, nichts zu forcieren. Sie sind noch nicht bereit und leiden unter dieser längeren Trennung», so die Pädagogin. Lahusen: «Ganz wichtig ist auch, dass die Eltern ihren Kindern kein schlechtes Gewissen machen, weil es sich langsam von ihnen lösen will und mutige Schritte alleine gehen möchte.»
Liebe Lea, ich hoffe, dass dich einer der Tipps anspricht. Du darfst mich aber auch gerne nochmals kontaktieren. Ich wünsche mir vorn Herzen, dass du die Übernachtungen bei deiner Freundin künftig geniessen kannst! Ich bin mir sicher, dass du das schaffst.
Herzlichst, Romina
Unsere Expertin für Familienfragen
Nie waren Eltern so gut informiert wie heute. Und nie war es schwieriger, im Dschungel aus Ratgebern und Internetforen den besten Weg für den eigenen Nachwuchs zu finden. Unsere Familien-Expertin Romina Brunner hilft, Ordnung zu schaffen. Regelmässig berät die zweifache Mutter und Journalistin die SI-Family-Community zu Themen und Fragen aus dem Familienalltag.