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Frauenhass als Ideologie

«Wir treiben junge Männer in die Radikalisierung»

Die Serie «Adolescence» handelt von einem 13-Jährigen, der nach dem Konsum frauenfeindlicher Inhalte im Netz eine Mitschülerin getötet haben soll. Für Männerpsychologe Markus Theunert ist es kein Zufall, dass manche Jungen in solche Extreme abrutschen.

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Teenager Jugend kiffen Folgen Smartphone Computer

Studien zeigen, dass Buben, die ein neues Social-Media-Profil aufsetzen, innerhalb von 20 Minuten mit frauenfeindlichen Inhalten in Kontakt kommen.

Getty Images

In der momentan meistgesehenen Netflix-Serie «Adolescence» wird ein 13-Jähriger des Mordes an einer gleichaltrigen Mitschülerin verdächtigt. Davor soll er sich online in die Abgründe der Incel-Community begeben haben. Dort versammeln sich Männer, die sich als «involuntary celibates» – unfreiwillig Zölibatäre – bezeichnen. Sie fühlen sich von der Gesellschaft übersehen und von Frauen abgelehnt.

Angepeitscht von Macho-Influencern wird aus Frust und Enttäuschung Hass. Im fiktiven Fall von «Adolescence» endet das für eine junge Frau tödlich. Psychologe Markus Theunert (52) vom Dachverband Schweizer Männer- und Väterorganisationen macht die Gesellschaft mitverantwortlich für die Anziehungskraft der Incel-Kultur.

Herr Theunert, warum lassen sich viele junge Männer im Internet von frauenfeindlichen Ideologien mitreissen?
Weil wir als Gesellschaft versagen.

Wie meinen Sie das?
Die moderne gesellschaftliche Norm verlangt von Männern, dass sie einfühlsam, teamfähig und nahe bei ihren Emotionen sind. Man tut so, als sei es eine beschlossene Sache, dass alte Vorstellungen überwunden sind. Doch das entspricht nicht der Realität. Wir lassen junge Männer mit diesem Widerspruch allein.

Warum entspricht die moderne Norm nicht der Realität?
In Arbeitswelt und Politik, im Sport und in anderen Wettbewerbssituationen sind Eigenschaften wie Härte und Stärke nach wie vor gefragt – ganz besonders, wenn Jungen und Männer unter sich sind.

Woraus setzt sich Männlichkeit zusammen?
Aus dem, was du mitbringst, – Biologie spielt eine Rolle, aber eine kleinere, als man gemeinhin denkt – und dem, was du aus den Erwartungen an Männlichkeit machst. Du kannst so sein, wie es die Norm vorgibt, musst aber nicht.

Das ist doch eigentlich eine gute Ausgangslage.
Ja, wenn man die Herausforderung annimmt. Viele Männer legen aber lieber den Autopiloten ein oder scheitern daran, sich in den widersprüchlichen Erwartungen an Männlichkeit zurechtzufinden. Unterstützung gibt es kaum. Niemand fühlt sich richtig zuständig. Indem wir junge Männer sich selbst überlassen, treiben wir sie in die Radikalisierung.

Nehmen Sie junge Männer damit nicht aus der Verantwortung?
Verhalten zu verstehen, heisst nicht, es zu billigen. Es ist Tatsache, dass die Unsicherheit, die viele junge Männer spüren, Radikalisierungsdynamiken begünstigen. Hinzu kommt die Macht der Algorithmen, die oft unterschätzt wird.

Inwiefern?
Eine im April veröffentlichte Studie aus Dublin zeigt: Ein neu erstelltes Social-Media-Konto eines jungen, männlichen Nutzers wird bereits nach rund zwanzig Minuten mit frauenfeindlichen Inhalten geflutet – selbst wenn der Nutzer ursprünglich ganz andere Interessen hatte.

Wie können Eltern gegensteuern?
Indem sie ihren Kindern zeigen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit keine starren Konzepte sind – sondern so gestaltet werden können, wie es zu ihnen passt.

Ist es heute wirklich vertretbar, einem jungen Mann zu sagen: «Es ist in Ordnung, wenn du ein konservatives Männlichkeitsbild lebst?»
Wir leben in einer freien Gesellschaft. Wenn sich ein junger Mann eine Partnerin wünscht, die zu Hause bleibt und den Haushalt führt, ist das zwar aus der Zeit gefallen, aber erlaubt.

Ab wann ist in Ihren Augen eine Grenze überschritten?
Wenn Überzeugungen in Gewalt münden – ob symbolisch oder real. Wenn ein junger Mann Frauen zum Beispiel im Netz aufgrund ihres Geschlechtes beschimpft. Oder wenn er glaubt, ein Anrecht auf ihre sexuelle Verfügbarkeit zu haben, und sich nimmt, was ihm vermeintlich zusteht. Dann macht er sich strafbar. Dafür gibt es Gesetze.

Von Jonas Dreyfus am 26. März 2025 - 07:00 Uhr