Oft fragen mich die Leute, weshalb ich so gern in die Berge gehe. Wieso ich auf vergletscherte Gipfel klettere. Warum ich mir die Mühsal und die Gefahren antue. Ich sage dann immer, es sei wegen der schönen Sonnenaufgänge im Gebirge. Wegen der Aussicht. Wegen der Luft. Wegen der Ruhe. Weil die Bergsteigerei ein guter Ausgleich zum Job am Schreibtisch sei.
Die Sonnenaufgänge sind nicht der Hauptgrund
Doch das stimmt nicht. Jedenfalls nicht ganz. Höchstens zur Hälfte. Klar, die Sonnenaufgänge sind schön. Sehr sogar. Aber sie gefallen mir auch, wenn ich an einem Sandstrand faul in der Hängematte liege. Oder der besagte Ausgleich zum Job: Nach einem Viertausender bin ich, ehrlich gesagt, alles andere als ausgeglichen. Körperlich sitze ich zwar am Schreibtisch, geistig bin ich jedoch noch immer auf der Tour. Mindestens zwei Tage lang fällt es mir unheimlich schwer, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Wenn das mein Chef wüsste!
Darum bleibe ich lieber bei der Halbwahrheit. Ausserdem verstehe ich sowieso nicht, was die Frage soll. Mir stellt sich viel mehr die Gegenfrage: Warum will jemand nicht in die Berge? Denn sobald ich einen ästhetischen Gipfel sehe, egal welcher Grösse, verspüre ich automatisch einen unzähmbaren Tatendurst. Für mich ist es das Natürlichste der Welt, da hinaufzuwollen.
Warum will jemand nicht in die Berge?
Früher ging ich sogar davon aus, klettern sei ein Grundbedürfnis des Menschen – wie atmen, trinken, schlafen. Jedem werde beim Anblick der eisigen Flanken warm ums Herz. Jeder empfinde eine abgöttische Befriedigung, wenn er in einer Felswand gegen die Schwerkraft kämpft. Ich dachte, jedem sei der Wunsch angeboren, im Winter mit den Tourenski eine frische Spur in unberührten Pulverschnee zu ziehen.
Die Halbwahrheit ist besser
Doch ich irrte mich. Nicht jeder braucht eine regelmässige Dosis Nordwind und Kälte. Die Liebe zu den Bergen ist eine Berufung, die ein Nichtberufener schwer nachvollziehen kann. Und wir Berufenen hüten uns seit Generationen davor, die wahren Beweggründe an die grosse Glocke zu hängen. Denn im Hochgebirge tun wir Dinge, die besser unter unseresgleichen bleiben.
Tagsüber schwitzen wir bei den strapaziösen Aufstiegen die Wäsche durch. Nachts liegen wir im selben Gewand im Hüttenlager unter Decken, die ewig nicht gelüftet wurden
Niemand braucht zu erfahren, dass wir uns manchmal eine Woche lang nicht waschen und die Kleider nie wechseln. Tagsüber schwitzen wir bei den strapaziösen Aufstiegen die Wäsche durch. Nachts liegen wir im selben Gewand im Hüttenlager unter Decken, die ewig nicht gelüftet wurden – und die schon hundert andere Alpinisten mit ihren Ausdünstungen parfümiert haben. Wie bei den Tieren. Würde die Hygienebehörde davon erfahren, sie käme womöglich auf die Idee, uns wegen Verwahrlosung einen Beistand aufzuhalsen.
Und was, wenn mein Chef wüsste, dass ich auf einer Tour viel mehr leiste als im Büro? Dass ich beim Klettern freiwillig acht, zehn, zwölf Stunden körperliche Schwerstarbeit verrichte. Ohne zu jammern. Ohne Geld zu wollen. Er würde mir bestimmt einen noch grösseren Arbeitsberg aufbürden als jetzt schon – zum halben Lohn! Darum: Nein danke. Da bleibe ich lieber bei der Version von schönen Sonnenaufgängen. Halbwahr ist sicherer.
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