Als «mächtigste Frau Europas» ist Angela Merkel weltweit anerkannt, nachdem ihre Partei bei den letzten Bundestagswahlen beinahe die absolute Mehrheit erreicht hat. Die viel zitierte Frage Henry Kissingers - er wisse niemals, wenn er mit Europa ins Gespräch kommen wolle, welche Nummer er wählen sollte - ist von US-Kommentatoren beantwortet worden: Von nun an müsse er in Berlin anrufen.
Mit der Konsolidierung Angela Merkels an der Spitze des wiedervereinigten Deutschlands haben sich tiefgreifende Wandlungen vollzogen. Deutschland ist wieder protestantischer und preussischer geworden, heisst es in den Gazetten. Aber trifft das auf die Pfarrerstochter zu, die zu Zeiten der DDR in der spröden brandenburgischen Uckermark aufgewachsen ist, sich dem kommunistischen Regime nicht anbiederte, aber sich als beste Russisch-Schülerin und hochbegabte Physikerin durchsetzte?
Angela Merkel gilt nach den Wahlen weltweit als die mächtigste Frau Europas
Mögen gewisse «preussische Tugenden», wie man einst sagte, bei dieser unscheinbaren, aber extrem durchsetzungsfähigen Politikerin durchaus zur Geltung kommen, so ist sie doch nüchtern und sachlich veranlagt, zeichnet sich durch Bescheidenheit und Vorsicht aus und verzichtet auch auf jeden Prunk. Sie geht die Politik mit dem kühlen Blick eines Generalstäblers an.
Eines kann man ihr mit Sicherheit jedoch nicht vorwerfen. Jede Form von «Wilhelminismus», jener anmassenden und prahlerischen Arroganz, an der das Hohenzollern-Reich am Ende unterging, ist ihr absolut fremd und wohl auch zuwider. Obwohl die Bundesrepublik wirtschaftlich vor allen anderen Staaten unseres Kontinents in Führung gegangen ist, käme ihr nie der törichte wilhelminische Spruch über die Lippen, man gehe «herrlichen Zeiten» entgegen.
Noch fremder sind ihr Säbelrasseln oder militärischer Draufgänger-Geist. Das zeigte sich bei der deutschen Stimmenthaltung im Sicherheitsrat bei dem Beschluss, gegen den Libyer Gaddafi kriegerisch vorzugehen, und noch deutlicher bei der extremen Zurückhaltung Berlins im heillosen syrischen Bürgerkrieg. Angela Merkel hat es geschehen lassen, dass die deutsche Bundeswehr zu einem relativ untauglichen Allianzpartner vergammelte. Mit dem jetzigen Verteidigungsminister de Maizière, der die deutschen Streitkräfte von einer Panne in die andere steuert, würde die Bundeswehr niemals in die Versuchung geraten, zu einem Staat im Staat zu werden.
Der Pfarrerstochter aus der Uckermark, die man anfangs belächelte, weil sie über keinerlei Hausmacht verfügte, ist es auf beinahe unheimliche Weise gelungen, jene Parteigrössen, die ihrer Führungsposition hätten gefährlich werden können, mit List und notfalls auch mit Tücke aus dem Weg zu räumen. Nun scheinen ihr bis zum Termin der nächsten Wahl im Jahr 2017 alle Pforten der Machtausübung offen zu stehen.
Aber Angela Merkel, der die Menge ihrer Anhänger mit dem amerikanisch klingenden Ruf «Angie! Angie!» zujubelte, ist vermutlich schon durch die strenge Erziehung im protestantischen Pfarrhaus vor jedem leichtfertigen Triumphalismus gefeit. Sie sieht sich ohnehin gezwungen, nach einem Parteien-Bündnis Ausschau zu halten.
Das Volk sähe es am liebsten, wenn sie mit der geschwächten Sozialdemokratie eine Koalition eingehen würde. Mit dieser arg geschrumpften «Volkspartei», von der sie in Fragen der Wirtschaft, der Finanzen und sogar der Aussenpolitik nichts wirklich Grundsätzliches trennt, müssten jedoch schmerzliche, persönliche Blessuren geheilt und auf manche Eitelkeit Rücksicht genommen werden.
Eine Koalition mit den Grünen, die infolge der Fehler ihres Vorsitzenden Jürgen Trittin so weit abgesunken ist, dass sie über weniger Abgeordnete verfügen wird als die radikal-sozialistische Linke, würde die geballte Kraft der bayrischen CSU und deren katholisches Traditionsbewusstsein auf den Plan rufen. Das Gerangel wird schwierig sein, und das könnte zwei oder drei Monate lang dauern. Aber die Kanzlerin hat schon andere Hürden überwunden.
Bleibt die Krise der Europapolitik und das zunehmend schwierige Verhältnis zu Frankreich. In Paris leidet so mancher Politiker und Publizist darunter, dass seine Nation von Deutschland in die zweite Reihe abgedrängt wurde. Erklärt sich etwa das militärische Auftrumpfen – die Bombardierung Libyens, die brillant geführte Operation «Serval» in Mali und neuerdings die exzessive Stimmungsmache im syrischen Bürgerkrieg - dadurch, dass François Hollande, dessen Ansehen beim eigenen Volk auf ein Minimum gesunken ist, aller Welt vorführen möchte, dass Frankreich bereit ist, jene strategische Verantwortung zu übernehmen, vor der man in Brüssel und vor allem in Berlin so vorsichtig zurückschreckt.
Die innige karolingische Harmonie, die einst zwischen Paris und Bonn bestand, gehört leider der Vergangenheit an. Aber das dürfte eher an der Unzulänglichkeit des französischen Staatschefs liegen als an der rätselhaften «Zarin aus der Uckermark», die gelassen ihre eigenen kontinentalen Pläne verfolgt.