Mit Angela Merkel dauert es immer etwas länger. Zum Beispiel kann sie im kleinen Kreis nicht gut Witze erzählen oder witzige Anekdoten. Wenn man trotzdem mitlachen muss – dann weil sie selber so sehr lachen muss. Sie schüttelt sich, sie kann nicht aufhören, ihr laufen die Tränen, und das steckt am Ende fast alle an. Ziel erreicht.
Angela Merkel ist eine Virtuosin der Verzögerung, eine politische «Zauder-Künstlerin». Und aller Voraussicht nach die alte und neue Bundeskanzlerin.
Warum?
Flammend reden kann sie nicht. Sie misstraut grossen Gesten und grossen Gefühlen. Sie hasst Hype und Hurra. Aber sie kann Krise. Und Krise war reichlich in den vergangenen zwölf Jahren: Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit die der Europäischen Union (schon fast vergessen), als 2007 mit einem «Lissaboner Vertrag» die gescheiterte EU-Verfassung gerettet werden musste.
Dann Finanzkrise und Banken-Schmelze. Dann Euro-Schuldenkrise, Griechenland-Bankrott, Krim, Ukraine und zuletzt, seit 2015, der Strom der Flüchtlinge.
Was aber das Wichtigste ist: Angela Merkel und die Mehrheit der Deutschen sind einander in all den Jahren fast durchwegs immer ähnlicher geworden. Viele, die Merkel wählen, wählen so gesehen sich selbst. Sie wählen in ihr, was sie selber leben: das Machbare.
Über das Privatleben der Kanzlerin ist nicht viel bekannt. Selbst langjährige Weggefährten kennen, so heisst es, weder ihr Wochenend-Häuschen von innen noch ihre Berliner Wohnung gegenüber dem Pergamonmuseum. Merkels Mann Joachim Sauer hat in zwölf Jahren Amtszeit seiner Frau kaum ein grösseres Interview gegeben, bei mehr als einem ihrer Amtseide im Bundestag fehlte er ganz.
Alles, was aus dem Privaten nach aussen dringt, stammt in jedem Wahlkampf aufs Neue aus dem privaten Kochbuch der Kanzlerin: dieses Mal der Hinweis, dass sie Kartoffelsuppe nicht püriert, sondern stampft. Dann bleibt sie nämlich stückiger.
Diese private Dunkelzone hat seit je ein politisches Missverständnis befördert: Dass Angela Merkel auch politisch ein Rätsel sei. Ist sie aber nicht.
Wie viele ihrer Vorgänger wird Angela Merkel vor allem von ihrem Amt geprägt. Als sie im Wahlkampf 2005 darauf zumarschierte, war sie eine zum grossen Wurf entschlossene konservativliberale Reformerin. Sie wollte das Land prägen. Als sie am Ende mit hauchdünnem Vorsprung im Kanzleramt angelangt war, besann sie sich anders.
Sie wandelte sich zu einer Art menschlichen Maschine, die unablässig ein grosses Problem nimmt, in mehrere kleine zerteilt, um sie anschliessend nacheinander anzugehen. Das produziert Vertrauen, Vertrauen der Mittelschicht-Deutschen. Und das prägt das Land bis heute. Freilich anders als mit grossen Sozial- oder Steuerreformen.
Dennoch darf man sich Angela Merkels Machtausübung nicht als immerzu einschläfernd leise vorstellen. In den vergangenen Jahren gab es Aufregung, Endspiele und Disruption zuhauf. Wie gesagt, Angela Merkel kann Krise, weil sie sehr gute Nerven hat. Sie kann aber auch Rache, weil sie ein sehr gutes Gedächtnis hat.
Das haben etliche Männer erfahren, schon vor der Kanzlerschaft, z. B. der damalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Friedrich Merz. Oder Edmund Stoiber, der sich 2005 nicht traute, in das erste Kabinett Merkel einzutreten.
Oder Norbert Röttgen, der smarte Umweltminister, den sie nach einer Wahlniederlage 2012 und Indiskretionen feuerte, ohne im Geringsten den Anschein erwecken zu wollen, es handle sich um etwas anderes als eine politische Exekution.
Wenn es sich um drei Frauen gehandelt hätte, wäre es ihnen übrigens kein Stück anders ergangen. Mit der geschlechtspolitischen Aufladung ihrer Karriere, als erste Frau im Kanzleramt, kann Angela Merkel nicht viel anfangen. Sie ist einfach machtbewusst: Den Vorsitz der CDU und die Kanzlerschaft hält sie fest in einer Hand, in ihrer.
Beides voneinander zu trennen, so wie es Gerhard Schröder bei der SPD irgendwann erschöpft zuliess, käme ihr nicht in den Sinn. Sie sagt zwar viel seltener «Ich» als ihr Vorgänger. Aber sie hat den noch zäheren Willen zur Macht.
Das alles liegt offen zutage, dennoch ist häufig vom «Rätsel Merkel» die Rede. Das rührt zum einen daher, dass der engste Kreis ihrer Vertrauten seit zwölf Jahren keine relevanten Interna an die Medien durchgestochen hat. Das schafft eine Aura des Undurchdringlichen.
Zum anderen können sich viele Beobachter auf zwei zentrale Momente ihrer Amtszeit nach wie vor keinen Reim machen: 2011, die hastige, ja kopflose Kehrtwende in Sachen Atomausstieg. Und die Aufnahme von knapp einer Million Flüchtlingen und Migranten im Laufe des Jahres 2015, vor allem in den bekannt dramatischen Wochen im September.
Tatsächlich könnten das rätselhaft emotionale, spontane Entscheidungen einer Frau sein, die sonst so gar nicht emotional und spontan ist. Aber in Wahrheit liegen die Dinge anders. Bei allen Problemen, die darauf folgten, bei allen Fehlern, die im Einzelnen gemacht wurden: Beide Entscheidungen waren Merkel pur.
Nachdem die CDU/CSU-FDPKoalition 2010 zunächst die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke verlängert hatte, löste der GAU in Fukushima die abrupte Kehrtwende aus. Mehr als ein halbes Dutzend Atomkraftwerke wurden sofort vom Netz genommen, den anderen die Restlaufzeiten wieder verkürzt.
Das passt so gar nicht zu Merkels Image einer nüchternen kopfgesteuerten Physikerin, die Ängste oder sachfremde Gründe ignoriert. Aber es passt blendend zum Macht- menschen Merkel, der erkannt hatte: Mit Fukushima war die übergrosse Mehrheit gegen Atomkraftwerke in Deutschland auf alle Ewigkeit zementiert.
Daraus hat Merkel die Konsequenzen gezogen, obwohl sie von der Atomkraft weiterhin überzeugt war. «Der Gaul war tot», sagte mir damals ein Minister, der Merkel sehr nahesteht. «Also ist sie abgestiegen.»
Und die Flüchtlinge? «Mutter Merkel» wurde die Kanzlerin genannt, als Mutter Teresa kam sie auf das Cover des «Spiegels». Die Linke im Land tat sich schwer, das euphorische Lob für die offenen Grenzen mit der eigenen langjährigen Merkel-Abneigung in Einklang zu bringen.
Man dichtete der Kanzlerin also eine neuerdings emotional gesteuerte Politik an, den nahezu kompletten Austausch ihrer politischen DNA. Die «neue Angela Merkel» hiess es. Die konnte man als Linker lieben. Nichts davon dürfte zutreffen. Merkel war immer Merkel.
Erkennbar in der Zusammenschau jener beiden Krisen, die den Sommer 2015 beherrschten: das Endspiel um Griechenlands Euro-Mitgliedschaft im Juli und das Offenhalten der deutschen Grenzen für Hunderttausende Flüchtlinge ab September.
Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte mit Wissen Merkels im Frühsommer eine Mehrheit unter den Euro-Staaten dafür gewonnen, das chronisch unzuverlässige Griechenland aus dem Euro zu drängen. Doch beim entscheidenden EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs liess sich Merkel vom damaligen Staatspräsidenten François Hollande umstimmen: Griechenland durfte bleiben, weil Merkel den Showdown mit Frankreich scheute. Wie zu Beginn der Euro-Krise wollte sie eines nicht riskieren: als Bundeskanzlerin in die Geschichte einzugehen, welche die EU und den Euro zum Einsturz gebracht hat.
In Angela Merkel steckt nämlich viel mehr Helmut Kohl, als sie wahrhaben will oder zugeben würde.
Ähnlich in der Flüchtlingskrise. Merkel hatte in den 18 Monaten vor dem Sommer 2015 die Zuspitzung der Lage sträflich unterschätzt. Sie liess ihren Innenminister in Brüssel mauern, als eine EU-weite Lösung noch möglich war. Später waren Hunderttausende bereits auf EU-Boden und auf der Balkan-Route gen Norden unterwegs, und Merkel agierte in der Krise nach bekanntem Muster: Täglich Tausende, Zehntausende an den geschlossenen deutschen Grenzen ins Niemandsland zurückzuweisen, hätte keine Bundesregierung politisch lange durchgestanden – da war sich die Kanzlerin sicher.
Also versuchte sie es erst gar nicht. Und zweitens sollte Deutschland als Führungsmacht der EU nicht die weisse Fahne hissen und die Grenzen schliessen, koste es für die Nachbarn, was es wolle. Also liess sie die Grenzen offen. Stattdessen wollte die Kanzlerin Deutschland in Vorleistung gehen lassen, um Zeit zu gewinnen und den Schutz der Aussengrenze durch die Türkei herbeizuverhandeln.
In weiten Teilen ist das geglückt, aber einen tiefen Riss zu mehreren östlichen EU-Staaten hat das Manöver verschuldet. Fehler und unglückliche Verkettungen in der Flüchtlingskrise haben sich schlimmer und anhaltender gerächt als je zuvor in ihrer Amtszeit.
Vor allem hat Angela Merkel die Wirkung ihrer Flüchtlingspolitik in Deutschland nicht genau genug eingeschätzt. Sie ging davon aus, typisch für sie, dass die Zahlen der wöchentlich neu Ankommenden nur signifikant sinken müssten, um das Thema politisch zu neutralisieren und die fremdenfeindliche Rechtsaussen-Partei AfD kleinzuhalten. Tatsächlich hat Angela Merkel zehn Jahre lang die deutsche Konsens-Neigung verkörpert. In dieser Zeit haben sie natürlich nicht alle im Land geliebt, aber kaum jemand hat sie gehasst. Seit Herbst 2015 ist das anders, und es hält im Wahlkampf 2017 an. Die AfD ist auf dem Weg in den Bundestag. Sie hat sich rechts von der Merkel-CDU etabliert.
Macht ihr das etwas aus?
«Nüschte», würde sie in ostdeutscher Sprachfärbung antworten, «nix da». Tatsächlich liegen ihre Umfragewerte auf Vorkrisenniveau. Die Mitte will ihr vertrauen, denn die Mitte in Deutschland liebt es, zu vertrauen.
Aber das «Nüschte» ist nicht die ganze Wahrheit. Die AfD wäre die erste völkisch-xenophobe, antieuropäische Partei im deutschen Parlament seit 1949 – und somit Teil von Angela Merkels politischem Erbe. Vielleicht will sie auch deshalb eine vierte Amtszeit als Bundeskanzlerin. Um diese Scharte auszuwetzen.