Fast alle Bänke an der Alp-Schaukäserei Morteratsch sind besetzt. Es wird gebruncht, getrunken und degustiert. Kaum zu glauben, dass die Alp fast 50 Jahre leer stand. Dabei ist sie perfekt gelegen: nah an der Bernina-Passstrasse, mit direktem Bahnanschluss und vis-à-vis des mächtigen Morteratsch-Gletschers. «In der Saison haben wir jetzt fast täglich volles Haus», erzählt Betriebsleiter Hansjürg Wüthrich. «Und von Jahr zu Jahr sind immer mehr Biker dabei.»
Wüthrich ist einst wegen des Windsurfens an den Silvaplanersee gekommen. Als sich die Gelegenheit bot, die Sennerei in Pontresina zu übernehmen, griff er zu. Nicht zuletzt, weil er sein Herz schon immer gern auf dem Bike zum Klopfen gebracht hat.
An einem der umliegenden Tische macht sich eine Transalp-Gruppe aus Deutschland hungrig über Heutaler, Gletschermutschli und Ziger her. Für viele Alpenüberquerer ist die Beiz am Fuss des Berninapasses der perfekte Zwischenstopp. Und aus nächster Nähe zu sehen, wie in dem uralten Kupferkessel über offenem Feuer der Käse gemacht wird, ist natürlich eine zusätzliche Attraktion. «Ich habe hier immer die frische Alpmilch abgeholt und fand, dass das schade ist und dass man die Milch doch am besten hier direkt verarbeiten müsste», berichtet Wüthrich.
In mühevoller Handarbeit hat er mit Freunden das alte Haus restauriert und mit dem originalen Turner und Kupferkessel wieder in Stand gesetzt. Heute werden hier wieder jährlich 50 000 Liter Milch zu Käse veredelt. Und er findet auch unter den Velofahrern hungrige Abnehmer.
Die Abfahrten vom Berninapass sind unter Mountainbikern seit Jahren ein Klassiker. «Der Bernina-Express» wird die Tour liebevoll genannt, nimmt man doch traditionellerweise die Rhätische Bahn für den Aufstieg in Anspruch. Aber es tut sich etwas im Engadin: Im vergangenen Jahr wurden kräftig die Schaufeln geschwungen. Zwei Wege wurden für Biker ausgebaut: Der eine ist ein ausschliesslich für Sportler auf zwei Rädern bestimmter Abfahrts-Trail, der andere ist für den Aufstieg gedacht und wird mit den Wanderern geteilt. «Bergauf ist jetzt alles komplett fahrbar. Aber man braucht trotzdem ordentlich Dampf in den Beinen und eine gute Kurventechnik», meint Käsermeister Wüthrich, der selber viel mit dem Bike unterwegs ist.
Oder man nutzt, wie auf allen Engadiner Trails möglich, ein E-Mountainbike. Das macht den Aufstieg durch duftende Nadelwälder und entlang donnernder Bäche etwas leichter. Ob mit reiner Muskelkraft oder mit Hilfe eines Elektro-Antriebs – oben wird man mit dem Anblick der strahlenden Gletscherriesen des Bernina-Massivs und des grün-grau schimmernden Lago Bianco belohnt.
Berauschende Abfahrt
Versierte Biker fahren von hier aus über die Alp Grüm oder alternativ über La Rösa ins Val Poschiavo ab. Und seit vergangenem Jahr gibt es auch die Möglichkeit, auf einem Flow-Trail nach Pontresina zurückzukehren. Oder sollte man besser sagen: kugeln? Der Trail gleicht einer alpinen Murmelbahn, in der die Fahrer von Steilkurve zu Steilkurve talwärts kullern. Erfahrene Biker testen hier die Grenzen der Fliehkraft aus.
Auch Anfänger können flüssig talwärts sausen und sich in einen wahren Kurvenrausch fahren. Trails dieser Art gibt es in den Schweizer Alpen mittlerweile viele. Aber nur wenige sind so durchdacht und handwerklich so gut umgesetzt. «Ich bekomme das täglich mit, wenn Biker bei uns mit einem Riesengrinsen hereinspazieren. Wenn die Leute hier zum Beispiel bei ihrer Alpenüberquerung den Trail herunterkommen, sie flippen aus vor Freude», meint Hansjürg Wüthrich.
Neue Trails für jedermann
Wenn man den Käsermeister fragt, wo er am liebsten unterwegs ist, schwärmt er von den Trails rund um die Lagalb oder im nahegelegenen Val Minor. «Das ist super schön und für Biker, die sich gern fordern, der Hammer.» Was den Engadinern mit den neu angelegten Trails gelungen ist, ist aussergewöhnlich: Sie geben fahrtechnisch weniger erfahrenen Bikern die Möglichkeit, zu erleben, wie sich Mountainbiken in den Bergen anfühlt. Die Trails erlauben es, sich sowohl im Aufstieg als auch in der Abfahrt zu fordern, ohne Gefahr zu laufen, überfordert zu werden – oder sich gar zu langweilen. Wenn es dann doch einmal an Kondition fehlt, sind immer noch E-Bike oder Bernina-Express gute Alternativen. «Man muss für die Biker etwas tun», findet Hansjürg Wüthrich. «Ich bin überzeugt, das sind unsere Gäste von morgen.»
Vor 50 Jahren, als die Alp Morteratsch aufgegeben wurde, hätte sich vermutlich niemand träumen lassen, dass hier eines Tages Velofahrer ein und aus gehen würden. Vier grosse, hölzerne Bike-Ständer hat der Käsermeister bereits aufgestellt. Und wenn im Engadin weitere solche Trails aus dem Boden geschaufelt werden, braucht er bald noch mehr.