So viel Schnee hat es in der Schweiz seit Jahren nicht mehr gegeben! Besonders stark eingedeckt ist das Wallis. Blatten zum Beispiel, die hinterste Gemeinde im Lötschental, 1540 Meter über Meer. Im Dorf liegen 1,8 Meter Schnee, im Skigebiet Lauchernalp, auf 2700 Metern, sind es gar 5,31 Meter.
Drei Tage lang ist das Lötschental von der Aussenwelt abgeschnitten, die einzige Verbindungsstrasse wegen Lawinengefahr gesperrt. Doch die Einheimischen sind solche Schneemengen gewohnt.
Der Mann für alle Fälle
Eigentlich wollte er mit seiner Freundin für fünf Tage nach Zermatt reisen, zum Skifahren. Doch Jean-Christoph Lehner, der 30-jährige Gemeindepräsident von Blatten, musste kurzfristig absagen. Weil er wusste: Jetzt braucht es mich hier im Dorf! Als Koordinator, als Mann für alle Fälle.
Am Sonntag, 21. Januar, wird um fünf Uhr früh die einzige Verbindungsstrasse in die Aussenwelt, nach Goppenstein VS, wegen hoher Lawinengefahr gesperrt. Für die 300 Einheimischen in Blatten gibt es für die nächsten drei Tage kein Wegkommen mehr. Doch sie sind sich das gewohnt. «Business as usual», sagt der Gemeindepräsident und schaut aus dem Fenster der Gemeinderatsstube. «Die Leute bleiben ruhig.»
Essen und Trinken ist genug im Dorf, die Stromversorgung intakt. Die Behörden informieren die Bewohner der Häuser, die in der blauen Zone stehen – dort ist die Gefahr, vom Wind der Staublawinen getroffen zu werden, sehr gross: Haus nicht verlassen, Fensterläden schliessen!
200 Telefonate führt Jean-Christoph Lehner in diesen Tagen. Viele der hundert Einheimischen, die im Rhonetal arbeiten, zum Beispiel bei Lonza in Visp, wollen wissen: Wann ist die Strasse wieder befahrbar? Gibt es Shuttleflüge? «Es tut den Leuten gut, mal drei Tage innezuhalten», sagt Lehner.
Viele Gäste haben ihre Ferien verschoben. Doch Lehner bleibt optimistisch: Sprengversuche hätten gezeigt, dass eine gute Schneedichte herrscht. «Deshalb wird es im Moment zu keinen grösseren Lawinen mehr kommen. Doch der Winter ist noch jung.»
Die Jungs im Glück
Juhui! Zwei Tage schulfrei haben die rund dreissig Jugendlichen im Dorf. Denn das Postauto kann sie wegen dergeschlossenen Strasse nicht zur Schule bringen. Die Erstbis Sechstklässler gehen in die Nachbargemeinde Wiler, die Oberstufenschüler nach Kippel. «Schön, wenn die Strasse noch länger geschlossen bleiben würde», sagt Jonathan Ritler, 8.
Mit seinem Bruder Simon, 8, und den Gebrüdern Silvan, 8, und Frederik Bellwald, 12, tobt er im meterhohen Schnee. «An den zwei schulfreien Tagen haben wir Schneehügel und Iglus gebaut», sagt Frederik. Die Jungs hoffen, bald wieder auf dernahen Lauchernalp Ski zu fahren. Simon: «Viil Schnee isch z Greschta!»
Der Schäfer
«Das tut den Tieren gut», sagt Ewald Bellwald. Der 49-jährige Maler und Landwirt im Nebenerwerb lässt seine sechs Schwarznasenschafe aus dem Stall, es «böckelet». «Sie sind nervös», sagt Bellwald zu Reporter und Fotograf, er lacht, «wegen euch Fremden.» Aus einem langen Trog fressen die Schafe Kraftfutter und trockene Brotstücke. Bellwald geht denStall misten. Zwanzig Minuten sind die Tiere an der frischen Luft, dann kommen sie wieder in den Stall. Die Zeit von Ende Oktober bis Ende April verbringen sie dort.
Die schwangere Mama
Samuel Rubin macht grosse Augen. Der Zweijährige sitzt auf den Schultern seines Götti Reinhard Ritler, 43. Auch dessen Ehefrau Cordula, 47, schaut zu, wie der grosse Parkplatz mit schweren Maschinen vom Schnee geräumt wird. Samuels Eltern, Daniela und Raphael, logieren unten in Glis bei einer Kollegin: Sie konnten das Lötschental am Sonntagmorgen noch rechtzeitig verlassen, bevor dieses gesperrt wurde. Denn Daniela Rubin ist hochschwanger. Für sie wäre es ein zu grosses Risiko gewesen, wenn der Heli sie wegen schlechten Wetters nicht hätte zur Entbindung ausfliegen können.
Die Chrampfer
Der Balken des Holzdepots bei der Burgergemeinde-Sagi biegt sich – so schwer lastet der Schnee darauf. Anton Henzen, 38, hat rote Backen: Seit einer Stunde schaufelt er das Dach des Depots frei.
Der Berufschauffeur hat Zeit: Wegen der geschlossenen Strasse kann er nicht runter nach Gampel VS zur Arbeit. «Mein Chef hat keine Freude, dass ich hier oben festhänge. Hoffentlich muss ich keine Ferientage drangeben.»
Im Dorf sind noch andere schwer am Schaufeln: die beiden Gemeindearbeiter Bruno Ritler, 39, und Stefan Ebener, 47. Oft arbeiten sie ab vier Uhr morgens, immer guter Laune, zwölf Stunden lang. Mit ihren Schneefräsen und Schaufeln. Bei Wind und Wetter.
In den vergangenen Tagen hat es viel geregnet, der Schnee ist schwer. «Am Abend bin ich hundemüde», sagt Ebener. «Doch wir machen das gern.» Sein Kollege: «Wir reden und lachen viel miteinander, fast mehr als mit unseren Frauen.» Ihr Knochenjob wird geschätzt. «Wir werden oft zum Kafi eingeladen.» Manchmal gibts auch eine Packung Guetsli oder eine Flasche Roten.
Der Eilige
Swiss-Pilot Raphael Bellwald hat Dienst – im Cockpit eines Airbus A330 auf dem Flug von Genf in die USA. Deshalb organisierte der 30-jährige Walliser bei der Helikopterfirma Air-Glaciers einen siebenminütigen Shuttleflug von Blatten nach Gampel, für sich und seine Freundin, auf eigene Kosten. Die beiden waren im Ferienhaus von Bellwalds Vater.
Wegen des schlechten Wetters gab es nur ganz wenige Helikopterflüge – «das ist höhere Gewalt», sagt Blattens Gemeindepräsident Jean-Christoph Lehner. Drei Blattnerinnen, die im Altersheim im nahen Kippel angestellt sind, wurden an ihren Arbeitsort geflogen.
Nach drei Tagen ist die Strasse geräumt und wieder befahrbar. Das erfahren die Talbewohner über den für sie eingerichteten SMS-Warndienst.