Caspar sitzt am Esstisch. Er ist fünf Jahre alt. Vor sich das schöne Porzellan und die feinen Stoffservietten. Nur etwas fehlt: Messer. «Spargeln isst man nicht mit dem Messer», sagt Vater. Bei der Familie Ruetz werden Spargeln zelebriert. Man legt sie auf die Gabel und zieht sie mit den Zähnen ab. Caspar fliesst die Butter bis zum Ellbogen runter. Es ist eine seiner schönsten Kindheitserinnerungen. Heute, ein halbes Jahrhundert später, hat Caspar Ruetz über Umwege wieder zum Stangengemüse gefunden und ein Geschäft daraus gemacht: Er importiert Spargeln aus dem badischen Deutschland direkt in die Zürcher Restaurants.
Die Spargeln entlang der Spargelstrasse Baden-Württembergs gelten als die besten. Die Felder hier erscheinen endlos. Caspar Ruetz, 55, streift zwischen abgedeckten Erddämmen umher und kneift die Augen zusammen. Es ist heiss. «Die weisse Abdeckfolie verhindert eine Überhitzung und lässt die Spargeln langsamer wachsen», sagt Ruetz. Er muss seine Bestellung beim Bauern mit der Ernte abgleichen.
Dass Caspar Ruetz hier steht, ist reiner Zufall. Der Zürcher hatte eine Karriere als Banker eingeschlagen und war als Börsenchef der Privatbank Hofmann erfolgreich. Seine Welt waren feine Anzüge und klimatisierte Büros. Doch dann kam es 2008 zur Finanzkrise, die ihn den Job kostete. «Für mich war das natürlich ein Schock, aber auch eine Chance für neue Wege.» Ruetz arbeitete zunächst als Berater und hatte verschiedene Mandate in Stiftungen. «Doch mir hat irgendwie immer etwas gefehlt.»
Kurz vor Mittag. Spargelstecherin Isabella aus Ungarn steht gebeugt am Damm. Sie sucht nach Spargelköpfen, die aus der Erde ragen. Eine Seite der weissen Stange gräbt sie frei und holt das Gemüse mit einem Stecheisen aus der Erde. Mit einer Kelle macht sie das Loch wieder zu und klopft zweimal drauf. Dann geht sie einen Schritt weiter zum nächsten Spargelkopf.
Bis zu 10 Stunden am Tag sticht Isabella Spargeln. Als eine von 130 Saisonarbeitern auf dem Hof. Alles Ausländer. Die meisten aus Kroatien, Bulgarien oder Ungarn. Alle arbeiten zum Mindestlohn 8.48 Euro brutto. «Vielen Leuten ist nicht bewusst, welche Knochenarbeit hinter der Spargel-Ernte steht», sagt Ruetz.
Inhaber des Hofs ist Bodo Mönich. 100 Hektar Spargeln besitzt er – das sind 140 Fussballfelder voller weisser und grüner Stangen. Ruetz arbeitet seit dieser Saison mit ihm zusammen. Mönich: «Caspar tut das mit so einer Begeisterung, das macht richtig Spass.»
Auf die Geschäftsidee ist der Ex-Banker aus Zürich durch seine Tochter Julie gekommen. Sie lernte in Baden-Baden Maskenbildnerin. Als Ruetz sie besuchte, assen sie im Restaurant Spargeln, und die vergessene Erinnerung aus der Kindheit tauchte bei ihm wieder auf. Am Nebentisch sass ein Spargelbauer – sie kamen ins Gespräch und tranken Scheurebe. So viel, dass Caspar Ruetz und seine Frau Doris im Hotel schlafen mussten. Am folgenden Tag lud sie der Bauer auf seinen Hof ein. Er fragte, ob sie eine Kiste Spargeln mit nach Zürich bringen könnten – für einen befreundeten Restaurantbesitzer.
Ruetz erkannte die Chance fürs Geschäft. Er besuchte die besten Restaurants Zürichs und fragte die Küchenchefs, ob sie Spargeln kaufen wollen – direkt vom Bauern. Das war vor drei Jahren. Inzwischen beliefert Ruetz über 50 Restaurants. Immer wieder klingelt sein Handy. Küchenchefs wollen ihre Bestellungen aufgeben oder anpassen. Der persönliche Kontakt trägt zum Erfolg von Ruetz bei. «Das Geschäft mit den Spargeln ist emotional», sagt er und lacht.
Nach dem Besuch beim Bauern fährt Ruetz in ein Hotel und schläft vier Stunden. Mitten in der Nacht steht er auf und belädt seinen Anhänger– dieses Mal mit 790 Kilo Spargeln. Alles ist straff durchgeplant. Um halb drei Uhr fährt er los, noch immer ist stockdunkle Nacht. Doch Ruetz ist voller Energie: Vor fünf Uhr muss er an der Grenze sein, um nicht lange warten zu müssen. «Die Flut an Zollpapieren für die Spargeln ist schier endlos.» Den Transport macht er zweimal pro Woche. Ein Weg ist über 300 Kilometer lang.
Um halb sieben fährt Ruetz in Zürich ein. Die Stadt erwacht gerade. Jetzt müssen die Spargeln ausgetragen werden. Mit einem Lastenvelo fährt Ruetz von Restaurant zu Restaurant, stellt die Spargeln vor der Tür ab oder bringt sie – er kennt die Codes – direkt in die Kühlräume.
Es ist kurz vor Mittag – und Ruetz zeigt noch immer keine Spur von Müdigkeit. Eine der letzten Stationen liegt auf dem Zürichberg: «The Dolder Grand». Seit zwei Jahren bestellt der Chef à la Carte vom Restaurant Saltz, Julian Mai, 33, jede Saison bis zu 600 Kilogramm Spargeln. «Caspar ist so wunderbar unkompliziert und offen», sagt der Koch. Die zwei Männer haben vor Kurzem ein 6-Gang-Menü im Grandhotel organisiert. Als Schäumchen, als Süppchen oder flambiert bereitet Mai die Spargeln zu. Ruetz serviert sie den Gästen – beantwortet Fragen und wird mit Komplimenten überhäuft.
Wenn die Spargelsaison endet, arbeitet Ruetz wieder als Stiftungsrat und Berater. Aber nicht ohne vorher sein liebstes Gemüse noch einmal zu zelebrieren, wie früher am Familientisch - am Spargelsilvester.