Ein braunes Haus im Bauch von Adelboden, direkt hinter der Vogel lisi-Bar, von aussen ist es unscheinbar, aber im Innern tut sich eine ganz eigene Welt auf: ein Predigerpult, lange Bänke, Wände mit Bibelversen, Neonlicht.
Es ist der Versammlungsort der Gemeinde für Christus, einer evangelischen Freikirche. Neben einem weiss bedeckten Tisch stehen Simon Beer, 51, Sekretär der Gemeinde, und Thomas Kunz, 30, Leiter der Jugendgruppe. Sie zünden sechs blaue Kerzen an. Sechs Kerzen für sechs Männer, die ihr Leben verloren haben. Männer, die hier ein und aus gingen. «Meine Freunde haben Adelboden geliebt», sagt Kunz, seine Unterlippe zittert.
Adelboden ist da, wo der Weltcup am legendären Chuenisbärgli jedes Jahr Zehntausende Zuschauer anlockt, wo aus dem Schaufenster des Touristenbüros die einheimischen Skilehrer lächeln, wo das Mineralwasser aus dem Berg sprudelt.
Seit einer Woche ist Adelboden ausserdem: ein Dorf unter Schock, ein Talkessel der Trauer.
Genauer Unfall-Hergang wird abgeklärt
In der Nacht auf den 12. Januar stösst ein Kleinbus nahe der nordschwedischen Stadt Kiruna frontal mit einem Lastwagen zusammen. Sechs der sieben Insassen kommen dabei ums Leben – fünf von ihnen stammen aus Adelboden, ebenso der Überlebende. Der Lastwagenfahrer bleibt unverletzt.
Der überlebende Mann konnte mittlerweile von der Rega nach Bern ins Inselspital überführt werden. Gemäss der Gemeinde Adelboden geht es ihm «den Umständen entsprechend».
Was genau passiert ist, klären die schwedischen Behörden noch. Vermutlich wurde den jungen Männern eine enge, vereiste Kurve zum Verhängnis. Einheimische nennen sie Todeskurve. Offenbar geriet der Kleinbus dort auf die Gegenfahrbahn, wo ihm der Lastwagen entgegenkam.
Die Hiobsbotschaft aus Schweden erreicht die Adelbodner ausgerechnet am Tag des Weltcups. Zum Feiern ist danach niemandem mehr zumute. Keine Schlagerchöre. Keine Schlachtrufe auf die nächste Runde Jägermeister. Nur Schweigen.
Am Tag danach scheint es, als habe sich die Sprachlosigkeit durchs gesamte Engstligental gefressen. Das lauteste Geräusch machen die dicken Schneeflocken. Für das, was geschehen ist, gibt es keine Worte.
Trotzdem geht das Leben weiter. Vor der Kirche schippt ein Gemeindeangestellter Schnee, im Café Haueter bestellen Touristen Kaffee und Meringues, in der Mehrzweckhalle verteilt der Gemeindepräsident Markus Gempeler, 54, die dritte Pressemitteilung seit dem Unglück.
«Man liest solche Sachen ja immer in der Zeitung», sagt er, «das macht betroffen – aber wenn das Schicksal im eigenen Dorf zuschlägt, dann greift das viel tiefer.» Gempeler, ruhige Stimme, schwere Schritte, ist mit den Angehörigen in Kontakt, schirmt sie ab, schaufelt ihnen den Raum für ihre Trauer frei. Die Betroffenheit im Dorf sei riesig. «Weil jeder mindestens einen der Verstorbenen gekannt hat.»
Verbunden durch den Glauben an Jesus
Ramon K., 20, Patrick R., 25, Pascal T., 27, Samuel T., 25, und Franz M., 19. Sie waren Männer mit starken Händen und klugen Köpfen. Bauingenieure, Montageleiter, Zimmermänner. Leidenschaftliche Berggänger, naturliebend, weltoffen. «Die Schwedenreise war typisch für sie», sagt ihr Kamerad Thomas Kunz. Im Schnee biwakieren, mit der Motorsäge Löcher ins Eis fräsen, fischen, Ski fahren, das Nordlicht bestaunen – und gemeinsam über ihren Glauben sprechen.
Im Haus der Gemeinde für Christus setzt sich Kunz auf eine Bank, greift zur Bibel. «Der Glaube an Jesus Christus hat uns verbunden.» Einmal die Woche habe man sich hier getroffen und neben vielen Fragen auch über das Leben und den Tod diskutiert.
Kunz hat vom Tod seiner Freunde am Telefon erfahren. «Zuerst kam der Schock, dann brachen bei mir alle Dämme.» Unter den Verstorbenen ist einer seiner besten Freunde. «Unser Herz schlug im selben Takt – bei Winnetou würde man von Blutsbrüdern sprechen.»
Nur wenig später muss er die traurige Kunde den anderen Kameraden überbringen. Denn in Adelboden findet noch am gleichen Abend ein Treffen christlicher Jugendgruppen statt, eine alternative Feier zur Weltcup-Party, ohne Alkohol. Der Anlass wird zur Gedenkfeier. «Unsere Freunde hinterlassen eine grosse Lücke.»
«Jeder soll auf seine Art trauern»
Sekretär Simon Beer rührt in seinem Kaffee. «Warum ausgerechnet diese sechs?», fragt er und gibt Antwort: «Ich weiss es nicht. Wir lassen diese Fragen zu, aber uns hilft die innere Gewissheit, dass Gott auch über diesem Ereignis steht.» Als Christ gehe er davon aus, dass die Verstorbenen einen Platz bei Gott am himmlischen Ziel gefunden haben. «Sie sind uns nur vorausgegangen.»
Nun, in Adelboden sollen nicht nur die Gläubigen trauern können. Darum liegt in der Gemeindeverwaltung ein Kondolenzbuch auf. Und im Kirchgemeindehaus ist ein Raum der Stille eingerichtet: ein Sofa, ein Tisch mit Karten und Filzstiften, ein Korb für die Nastücher, für die Tränen. «Jeder soll auf seine Art trauern», sagt Judith Dummermuth, 40, Heilsarmeeoffizierin – sie hat geholfen, den Raum einzurichten. «In der Not steht das Dorf zusammen.» Der Raum ist rund um die Uhr geöffnet – in Zeiten der Trauer soll niemand vor verschlossenen Türen stehen.