Am frühen Morgen ist Markus Marti, 58, allein unter Dachsen. Im Eingang der Kindertagesstätte Riedtli hilft er Mavie, 2, in die Finken, lupft Jona, 3, auf den Fenstersims, weil sie der Mama nachwinken will. Marti spricht leise, als wolle er die morgendliche Stille nicht stören.
Geradezu laut wirken die Buchstaben hinter ihm: «Fass mich an!», schreit der Titel eines Zeitungsartikels, er klebt gut sichtbar an der Schranktür. Eine Geschichte darüber, warum Berührungen für Kinder lebenswichtig sind. «Heute ist das ja etwas kompliziert», sagt Marti – er gibt sich Mühe, einen neutralen Ton anzuschlagen –, «besonders nach negativen Schlagzeilen.»
Seit 30 Jahren leitet Marti die Kita Riedtli am Zürichberg, in einem Quartier, wo die Gebäude alt und die Bewohner alternativ und hip sind. In den bunten Räumen mit Klettergerüsten, Korkzapfenbädern und Kissen gehen 42 Kinder ein und aus. Die Gruppe Dachs hat elf Plätze und wird von drei Männern und drei Frauen betreut. Sie machen genau dasselbe: spielen, trösten, wickeln, balgen. Und doch haben die Männer in der Gesellschaft einen schweren Stand. Sie geraten schneller in Verdacht, finstere Absichten zu haben.
Ein Aufschrei geht Anfang Februar durch die Medien: Ein Mitarbeiter einer St. Galler Kita soll Buben sexuell missbraucht haben. «Furchtbar!», war Martis erster Gedanke. Sein zweiter: «Das ist schlecht für uns Männer.»
Silvan Vydrzel, 27, ist so etwas wie der Luca Hänni für die Kita-Mädchen, starke Arme, breites Lachen. Die Freude ist gross, als er um neun Uhr zur Spätschicht auftaucht. Er setzt sich in den Begrüssungskreis – und hat im Nu drei Kinder auf dem Schoss. Eines purzelt herunter. Plärrt. Aber nur kurz, weil die anderen schon singen «vom Giraff, wo na schöner wär als en Teddybär, will sin Hals e wunderschöni Rutschbahn wär».
Erst durch seinen Chef erfährt Silvan vom Fall in St. Gallen, er liest keine Zeitung. Seither fühlt er sich mehr beobachtet. Nicht von den Eltern der Kita-Kinder – «die vertrauen uns allen sehr». Doch als er kürzlich zusammen mit zwei anderen Betreuern und einer Horde Kinder in den Wald ging, spürte er die Blicke der Leute. «Aber ich bin deswegen nicht vorsichtiger geworden; wenn ein Kind Trost braucht, nehme ich es auf den Arm.»
Im Verhaltenskodex der Kita Riedtli steht: «Das Berühren und Trösten von Kindern ist selbstverständlich.» Das Papier umfasst mehrere Seiten – Marti hat es auf Geheiss der städtischen Behörde geschrieben. Nun blättert er nachdenklich im weissen Ordner. Sagt, es gebe natürlich ganz klare Grenzen: «Wir sind ja nicht die Eltern.» Das Küssen von Kindern etwa ist im Riedtli verboten. Handys gehören ins Büro. Und die Tür zum Wickelraum muss immer offen bleiben – bei Männern und Frauen. «Warum sollen Übergriffe nur von Männern ausgehen?»
Es ist Mitte der Achtziger, als sich Marti, ursprünglich Kondukteur bei den SBB, für eine Ausbildung als Kleinkindererzieher entscheidet. Damals dürfen die Kinder noch blutt im Garten herumrennen, gewickelt wird unter freiem Himmel. Männer gibt es in diesem Job kaum. «Ich war ein Exot», erinnert sich Marti. Eine Stelle findet er nicht auf Anhieb. Man fühle sich beim Gedanken nicht wohl, er als Mann mit Kindern, heisst es. Nichts für ungut.
In seiner Kita setzt sich Marti, der selbst drei Töchter hat, für durchmischte Teams ein. Dabei gehe es nicht ums Fussballspielen und Klettern. «Das sind Klischees.» Ein Kind brauche männliche Bezugspersonen. Das Problem: Es gibt nur wenige Bewerber. Die skeptische Haltung der Gesellschaft sei nicht gerade förderlich, sagt Marti, aber der Hauptgrund ist ein anderer: «Viel Arbeit für wenig Lohn, das schreckt die meisten Männer ab.»
Oliver Luder, 17, gehört nicht zu den meisten. Er macht im Riedtli die Lehre als Fachmann Kinderbetreuung, ein Bursche mit fetter Silberkette und erwachsenen Antworten. «Jeden Tag beobachten, wie die Kinder Fortschritte machen – etwas Spannenderes gibt es nicht», sagt er. In seiner Klasse an der Berufsschule sind 4 Männer und 19 Frauen. Der Missbrauchsfall in St. Gallen habe zu reden gegeben. Seither denke er häufiger, «du musst aufpassen». «Aber eigentlich», sagt er, «will ich beweisen, wie super die Kita-Männer sind.»
Die Dachse haben Hunger. Znünizeit. Zuerst Äpfel und Mandarinen, dann Zwieback mit Butter. Und wie die Kinder dasitzen, mampfend und mit vollgeschmierten Fingern, ist klar – sie kümmert es herzlich wenig, wer sie betreut: ob Frau oder Mann.