Das Unglück geschieht kurz nach acht Uhr an diesem Sonntagmorgen. Eine Schneebrettlawine löst sich. Im Gebiet Blatten-Belalp im Wallis, auf 2050 Metern Höhe, abseits der Skipisten. Neun Menschen sollen verschüttet worden sein, so die ersten Meldungen; wahrscheinlich Freerider, die ihre Spuren als allererste in die frisch verschneiten Hänge legen wollten. Seit gestern Nacht schneit es ununterbrochen, Nassschnee, pappig, klebrig, schwer, dazu viel Wind, Sturmböen gar. Bei so einem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür.
Reece stürmt über das Lawinenfeld und sucht nach Opfern, die unter dem Schnee liegen. Seit dem Unglück ist keine halbe Stunde vergangen. 90 Prozent der Verschütteten leben bei Lawinenstillstand noch, nach 15 Minuten sinkt die Überlebenschance auf die Hälfte. Reece (man sagt «Ris») ist ein siebenjähriger Retriever. Reece ist ein Lawinenhund.
Laut dem Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos sterben jedes Jahr in der Schweiz im Durchschnitt 23 Menschen durch Lawinen. 90 Prozent aller Opfer haben die Lawine selbst ausgelöst. Am meisten Lawinenunglücke passieren im Wallis.
Reece sucht, schnuppert, wittert. Im hohen Neuschnee ist er gar nicht zu sehen, nur seine Rute - rotbraun und buschig wie bei einem Eichhörnchen - pendelt aufgereckt über der Schneedecke. Dann hat er ihn!
Suech, suech! Wo isch s Männli?
Reece tänzelt, wedelt, steckt seine Schnauze in die immer gleiche Stelle im Schnee, scharrt mit den Vorderläufen, wühlt, gräbt - und winselt vor Erregung und Freude. Er riecht ihn. Hier muss der Verschüttete sein. «Ja, brav, suech, suech! Wo isch s Männli?», feuert ein Mann auf Tourenski den Hund an. Er trägt die gelb-schwarze Montur eines Bergretters, es ist Hundeführer Daniel Zeiter, Reece’ Herrchen, sein Chef. Zeiter fordert per Funk Verstärkung an. Mitglieder der Rettungskolonne Blatten-Belalp stapfen herbei. Da, wo Reece wühlt, stacheln einige der Retter Sondierstangen in den Grund, um das Opfer noch präziser zu lokalisieren, andere graben mit ihren ausziehbaren Aluminiumschaufeln. Es eilt. Extrem.
Bei Opfern, die von einer Lawine ganz verschüttet werden, überlebt nur etwas mehr als jeder Zweite. Die häufigste Todesursache Verschütteter ist Ersticken, da sie oft keine oder nur eine kleine Atemhöhle haben.
Plötzlich ist Reece verschwunden. Eingetaucht, untergetaucht im Schnee, wo er, in zwei Metern Tiefe, eine Schneehöhle gefunden hat. Darin liegt der Mensch. Das Lawinenopfer. Reece leckt ihm Gesicht und Ohren und schlüpft dann wieder hoch an die Oberfläche. Daniel Zeiter lobt seinen Hund, tätschelt, krault, drückt ihm zur Belohnung Lachs aus einer Tube in die Schnauze.
Die Helfer graben das Opfer aus, hieven es heraus, betten es auf einen Rettungsschlitten. Es ist ein junger Mann, ansprechbar, unverletzt, unbeeindruckt; ja fast gelangweilt scheint er, und seine Frisur sitzt noch immer so manierlich, als wäre nichts passiert. Ist es auch nicht. Das «Opfer» ist Italiener und arbeitet im nahen Bergrestaurant. Ob er nun zurück an seine Arbeit in die Küche könne, fragt er. Der Einsatzleiter der Rettungskolonne Blatten-Belalp dankt ihm für Einsatz und schauspielerische Leistung. Das Lawinenunglück vom Sonntagmorgen auf der Belalp - ist nur eine Übung.
Daniel Zeiter, von den Kollegen «dr Zeiti» genannt, am Rettungsfunk «Leone 111» gerufen, ist 41 Jahre alt, prononcierter Walliser (sind sie das nicht alle?) und Teamleiter eines Bahn- und LKW-Containerterminals bei der Lonza in Visp VS. Zeiter ist gelernter Landwirt, war danach Baumaschinenführer, dann Lastwagenfahrer, dann Tunnellbauer und schliesslich Car-Chauffeur, wo er auf einer langen Fahrt nach Lloret de Mar in Spanien einen Fahrgast kennen- und lieben lernte («es war ein Flirt via Rückspiegel»). Mit seiner Partnerin Carole Abgottspon und vier Hunden lebt Zeiter heute in Ried-Brig. Beim Hauseingang haftet ein Kleber «My dog is my everything».
Zeiter trägt Glatze, einen Rund-um-den-Mund-Bart «und grad ein paar Pfund zu viel auf den Rippen». Man solle sich davon aber nicht täuschen lassen, er sei topfit, müsse es auch sein, sonst könnte er gar nicht als Lawinenhundeführer Einsätze meistern.
Zeiter leitet die Rettungshundestaffel Simplon-Aletsch-Goms mit zwölf Hundeteams. Während der Wintersaison ist immer mindestens ein Team auf Pikett. Bei einem Lawinenereignis mit Verschütteten wird das Mann-Hund-Team innert Minuten von einem Heli abgeholt (daheim oder am Arbeitsplatz) und zur Unglücksstelle geflogen.
Ein Mensch hat 5 Millionen Riechzellen, ein Hund bis zu 220 Millionen. Hunde machen bis zu 300 Atemzüge pro Minute, wobei die Riechzellen ständig mit neuen Geruchspartikeln gereizt werden. Zehn Prozent des Hundegehirns sind für die Riechanalyse zuständig, beim Menschen ist es gerade mal ein Prozent.
Nicht jeder Hund eignet sich als Lawinenhund. Der berühmte Barry etwa, der Bernhardiner mit dem Fässli am Hals, ist viel zu schwer und plump (er diente früher wohl eher als Schneepflug hin zum Verletzten). Nur Hunde mit ausgeprägtem Sucheifer, grosser Ausdauer sowie physischer und psychischer Härte kommen infrage. Schäferhunde, Labradors, Border-Collies und Retriever eignen sich am besten.
Reece ist ein «Nova Scotia Duck Tolling»-Retriever aus Kanada.
Vor fünf Jahren begann sich Zeiter für das Thema Lawinenhund zu interessieren - und mit Reece zu trainieren. Die Ausbildung für Hund und Mann dauert Jahre, ist anspruchsvoll, die Prüfungen bestehen nur die besten Teams. Es gibt drei Sorten Lawinenhunde, A-, B- und C-Hunde, C sind die allerbesten.
Reece ist ein C-Hund.
Wie aber bringt man einen Hund dazu, wildfremde Menschen unter drei Metern Schnee aufzuspüren?
Phase 1: Der Hundeführer legt sich mit seinem Hund in ein Schneeloch und spielt mit ihm. Der Hund lernt: Im Schneeloch drin sein macht Spass.
Phase 2: Das Schneeloch ist enger und tiefer unten, der Hundeführer legt sich allein hinein. Der Hund lernt: Ich muss mein Herrchen suchen, erschnüffeln, zudem tiefer graben, um wieder bei ihm im Loch sein zu dürfen.
Phase 3: Neu kommt eine fremde, dritte Person ins Loch. Der Hund lernt: Auch mit einer fremden Person macht es Spass.
Phase 4: Nur noch die fremde Person liegt im Loch. «Wo isch s Männli?» Der Hund lernt: Auch ohne mein Herrchen erschnüffle und grabe ich mich zu einer fremden Person ins Loch durch.
Wichtig ist, dass der Hund für jeden seiner Erfolge belohnt wird. Bei Reece läuft das übers Fressen.
An diesem Sonntag auf der Belalp hat Zeiter dem Hund beim Zmorge nur wenig gefüttert. «Sonst sagt sich Reece: Warum soll ich arbeiten, mein Ranzen ist ja voll», erklärt Zeiter. Mit Hungergefühl aber stöbert der Hund schnell nach den Verschütteten, weil er weiss, dass es bei Erfolg ein Leckerchen gibt - Lachs aus der Tube (handlich, sauber verpackt und gefriert nie). So motiviert findet Reece («Wo isch s Männli?») innert drei Minuten das zweite «Opfer» auf der Belalp.
Schau einem Toten nie in die Augen
Der vergangene Winter 2014/15 war extrem: 153 Lawinen erfassten 239 Menschen; 33 starben. In der laufenden Saison sind bisher 7 Personen in Lawinen umgekommen.
Schau einem Toten nie in die Augen: Den Rat hat Daniel Zeiter von einem erfahrenen Bergretter bekommen. «Man funktioniert einfach», beschreibt Zeiter die Situation beim Retten und schildert, wie es ist, wenn man Verschüttete tot findet, wie man den Körper frei schaufelt, hochhievt, in den Leichensack packt. Und dabei dem Toten nie in die Augen schaut. Am meisten fürchtet sich Zeiter davor, ein totes Kind bergen zu müssen oder einen anderen Lawinenhundeführer. Er hat Kameraden, die das schon erlebt haben - «das geht ganz nahe».
Manchmal ist der Lawinenhund auch ein bisschen Psychologe. Es kam schon vor, dass Mitglieder einer Tourenski-Gruppe auf dem Lawinenfeld um ihre toten Kollegen trauerten, dasassen, weinten und Reece zu ihnen hintrottete, sich von den Trauernden knuddeln, streicheln liess und so auf seine Weise Trost spendete.
Das grosse Ziel jedes Lawinenhunde-Teams ist es, Verschüttete lebend zu finden. Das gelingt nur sehr selten - der Faktor Zeit bei einem Lawinenunglück ist einfach zu erbarmungslos.
Reece und Zeiter haben bisher nur Tote gefunden.
Es schneit und stürmt noch immer auf der Belalp. Übungsende. Für die Menschen war das nur Training, für den Hund aber ist jeder Einsatz ein Ernstfall: Finde ich das Männli? Die Rettungskolonne zieht sich ins Bergrestaurant zurück, heisser Tee für die einen, kaltes Bier für die anderen, eine Pizza aus dem Holzofen für alle.
Reece sitzt brav neben Daniel Zeiter. Angeleint. Zum ersten Mal an diesem Tag. Die Leine sei jetzt nötig, sagt Zeiter. Wenn Reece nämlich merkt, dass sein Einsatz beendet ist und er nicht mehr gebraucht wird, rennt er manchmal davon. Zur Bergstation. Wo er dann ganz allein, selbstständig und selbstbewusst, mit einer Gondelbahn ins Tal fährt.