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Unterwegs mit Pfarrer Ernst Sieber

Die Saftwurzel Gottes zeigt ihre Kraftorte

Sein Meister ist Jesus Christus, seine Botschaft die Nächstenliebe. Pfarrer Ernst Sieber berührt die Menschen mit sanften Händen und starken Worten. Eine Reise mit dem Missionar im Mantel zurück zu seinen Wurzeln. 

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Für die einen ist er der Albert Schweitzer von Zürich. Für die anderen die Mutter Teresa der Schweiz. Kürzlich wurde Ernst Sieber medial fast totgesagt («grosse gesundheitliche Probleme», «seine vielleicht letzten Weihnachten»). Der Pfarrer der Herzen ist lebendig wie ein Fisch im Wasser. Meint es «dä da obe» gut mit ihm, wird der im Sternzeichen Fische Geborene am 24. Februar 2016 seinen 89. Geburtstag feiern.

Die Quelle, aus der Ernst Sieber Kraft schöpft, liegt bei seiner Linde auf dem Hirzel. 300 Jahre braucht ein Baum dieser Grösse zum Wachsen, 300 zum Leben, 300 zum Sterben. Der Stamm des 500-jährigen Prachtexemplars ist sein Thron, in den er hineinhockt wie ein Waldschrat aus dem Märchen. «Schmöck!», ruft er und taucht die Hände in ungedüngte Erde. Als Kuhhirt knetete er aus diesem Humus kleine Lehmfiguren. Die grosse Version steht auf dem Friedhof in seiner Heimatgemeinde Horgen. Für die Figuren verbrauchte er zwölf Tonnen «Lätt» von Einsiedeln, bevor er sie in Bronze goss. Nebenan ruhen seine Liebsten in Frieden: Eltern, Grosseltern, Geschwister.

Während die Seegemeinden im Nebelmeer versinken, zeigt sich die Hügellandschaft auf Schwyzer Boden von ihrer strahlenden Seite. «Das Innerste eines Menschen wird dort berührt, wo seine Wurzeln sind», ist Sieber überzeugt. Auf dem nahen Föxenhof wäscht der Knecht Kuhschwänze. In der Einsamkeit, beim Ackern, Kartoffelnernten, «Geisslechlöpfe» findet er zum Glauben, spürt zum ersten Mal echte Gottesliebe. Er spricht nicht viel. Mit 15 bricht es aus ihm heraus. «Ich übte das Predigen. Dann wurden die Kühe meine Gläubigen. Schauten abends alle in die gleiche Richtung, gabs vom Meister zwei Stutz. Doch ich wurde ihm bald zu teuer.»

Der Strolch wird zum Star. Seine Begabung, das Evangelium auf humorvolle Art zu verkünden, kommt an. Ehrgeiz und Durchhaltewille impft dem begeisterten Soldat das Militär ein. In nur zwei Jahren holt er die Matura nach, studiert Theologie. Bis 1967 amtiert er als Pfarrer in Uitikon Waldegg, danach ist er bis zur Pensionierung zuständig für Zürich Altstetten. Doch was nützt alle Theorie, wenn die Praxis fehlt? Er will kein Kirchenfürst sein, der sich scheut, sich die Hände schmutzig zu machen, Verzweifelten die Tränen zu trocknen, Sterbenden den Schweiss von der Stirne zu wischen.

Sein Palazzo ist der Pfuusbus. Sein Talar der Zottelmantel. Seine Mission die Nächstenliebe. Unermüdlich posaunt der Menschenkenner und Menschenfänger dieser Tage die Botschaft des Herrn mit Pauken und Trompeten in die Kälte hinaus. Fragt man ihn, wie es ihm geht, lautet die Antwort: «Vorwärts, aufwärts!» Ein wenig Spektakel gehört beim ehemaligen Nationalrat dazu, wie das Amen in der Kirche.

Wenn das Fest der Liebe zum Prüfstein wird für jene, die alles haben - wie fühlen sich diejenigen, die alles verloren haben? «Weisch», sagt Sieber und streichelt einem Bruder von der Strasse die Wange. «Ich bin froh, dass du dini Emotione gschpürsch. Was wird nöd alles us Wiehnachte gmacht! Debi isch d Adväntsziit eigentlich dazue da, dass mer d Gfühl zuelaht. S Zämesii befreit, d Gmeinschaft git Halt. Mer söttit eus id Auge luege, und wänns Träne drinhät, isch es guet.»

Auch im hohen Alter zieht er in kalten Nächten noch durch Zürichs Gassen, auf der Suche nach Härtefällen. Seit der Räumung der Drogenhölle am Platzspitz vor über 20 Jahren führen nur neue Methoden zum Ziel, ist er überzeugt. Es stimmt ihn nachdenklich, dass vermehrt junge Leute durch die sozialen Maschen fallen, als «Elendshüüfeli» auf der Strasse landen. «Man kann keinem Süchtigen wegnehmen, was er am meisten begehrt - und ihn dann seinem Schicksal überlassen. Das ist menschenunwürdig.»

In den über 30 Sozialwerken, die zum Teil seinen Namen tragen, werden sie mit Essen, Decken, ärztlicher Betreuung und Medikamenten versorgt. Sie sollen aber auch arbeiten können. Beweisen, dass kaputte Menschen, wenn sie Brot, Wärme und Engagement erhalten, etwas leisten können. Die erste Institution gründete der Obdachlosenpfarrer während der Seegfrörni 1963. Erfolgreich und engagiert. Aber immer auch mit sorgloser Naivität. 2004 trat er aus den Sozialwerken Pfarrer Sieber (SWS) aus. Es gab Querelen um die Finanzen. Der charismatische Zausel aus Uitikon Waldegg hatte jedoch nie mit Geld zu tun: «Jesus hatte in seiner Jüngerschaft auch einen, der sich um die Kasse kümmerte.» 200 Leute arbeiten in der Organisation, die sich durch Spendengelder finanziert. Er ist der Ehrenpräsident. «Ich bin nicht die Stiftung. Die Stiftung ist ein Teil von mir.» Mit seinem Credo «Jesus ist für alle» half das Aushängeschild Tausenden auf die Beine. Sieber will keinen Rappen. Betteln für sich ist nicht seine Stärke.

Anfang 2001 begab er sich auf eine humanitäre Reise nach Afghanistan. Er hatte Einblick ins Innere der Al-Kaida, brachte Brot, Geld und Velos mit. Der Krieg, der in und um Syrien tobt, geht ihm sehr nahe. Die Brutalität und das durch die IS-Terroristen verursachte Leid, die unter dem Deckmantel der Religion stattfinden, verurteilt er scharf. «Der Islamische Staat ist böse. Man muss denen jetzt Mores lehren und mit Härte reagieren.»

Redet er sich in höhere Sphären, holt ihn Sonja auf die Erde zurück. Fast kippte er von der Kanzel, als er das «schöne Geschöpf» vor 57 Jahren in der Kirchenbank erblickte. Das Paar hat acht Kinder. Vier eigene: Martina, Jasmin, Ilona, Jethro. Und vier adoptierte: Simone, Michele, Patrice, Nuredin. Nur Ilona trat in seine Fussstapfen. Sie erbte die Schönheit von ihrer Mutter, einer Opernsängerin, und das Temperament ihres Vaters. Die Krankenschwester und Psychologin führt in Ramsen SH den Spiesshof für Menschen am Abgrund. Ohne Unterstützung der sieberschen Hilfswerke!

An Heiligabend trifft sich die Sippe inklusive 13 Enkelkinder zum Fest. Meistens ist der Meister nach seinen Gottesdiensten im Sune-Egge, Suneboge, Pfuusbus und dem TeleZüri-Talk bei Markus Gilli so müde, dass er auf dem Sofa einschläft. «Wenn ich im nächsten Leben etwas anders machen könnte», sagt Ernst Sieber, «dann würde ich mir mehr Zeit für die Familie nehmen.» «Er hat eine unbändige Energie, kennt aber seine Grenzen nicht», sagt seine Frau. Eine künstliche Aorta, vier Lungenentzündungen, fünf Fahrausweisentzüge: Der Seelsorger setzt ein schelmisches Lächeln auf. «Ich habe nie gesagt, ich sei ein Einfacher. Ich habe Fehler wie jeder andere auch. Nur mache ich sie fröhlich.»

Gedanken über den Tod gehören zu seinem Leben. «Im Jenseits muss es mindestens so schön sein wie auf der Erde. Sonst bleibe ich noch! Mann muss aber ein wenig mitmachen. Es wird einem nichts geschenkt.» Ausser vielleicht ein Fünfliber vom Sieber. Es ist kein Geheimnis, dass der Seelenwärmer seinen Schäfchen ab und zu einen «Schnägg» in die Tasche steckt, wenn sie zum Gottesdienst erscheinen. Das heilige Feuer kompensiert der Lebenskünstler mit Malen in seinem Bienenhaus am Sihlsee. Vor zwei Jahren wurde das Atelier von einer zwei Meter hohen Schlammlawine erfasst. Vor zwei Wochen wäre es wegen eines Schwelbrandes fast abgebrannt. Wie durch ein Wunder blieben alle Bilder beide Male unversehrt.

Vor der Staffelei, im Licht der Laterne, findet er zu sich selbst. Oft malt er wie ein Besessener, neun Stunden ohne Unterbruch. Bannt die Kreuzabnahme Jesu so ausdrucksstark auf Jute, dass einem beim Betrachten des Barmherzigen ganz «schmuuch» wird. Einst kaufte sein «Müeti» das Anwesen in Euthal, damit ihr begabter Bub einen Rückzugsort hat. Bis zur Ohnmacht sass sie ihm Modell. Ernst Sieber: «Diese feine Frau schrieb Anfang Jahr einen Stapel Entschuldigungen für die Lehrer (‹Sohn hat Halsweh, ist krank›), damit ich hinter dem Ofenbänkli an meinen Porträts feilen konnte.»

Noch heute hat der Bärtige das Glöggli des Christkinds im Ohr, das ihm als «kleinem Büebel» eine Eisenbahn unter den Baum legte. Welche Botschaft brennt ihm an Weihnachten und zum Jahresende unter den Nägeln? Sieber wird ernst. «Wir sollten alles weglassen, was überladen ist und uns von Gott ablenkt. Die Menschheit wird immer dann wach, wenn nichts mehr da ist ausser Hoffnung.» Seinen Wunsch wird er frühestens im Sommer 2016 einlösen können. «Ich will mit meinen Geissen noch einmal ins Maderanertal. Wo die Urkräfte der Natur auf uns Winzlinge treffen, ist Gott nah.»

Von Caroline Micaela Hauger am 3. Januar 2016 - 05:18 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 15:32 Uhr