Sie ist eine 26-jährige Zürcherin. Seit vier Jahren in einer Beziehung. Und: seit mehreren Wochen untreu. Was bei vielen Kopfschütteln, gar Empörung auslöst, scheint für Nina* aber das Normalste der Welt zu sein. Wie der Kaffee morgens. Die Zigarette nach dem Essen. Oder eben der Sex mit dem Partner. «Ich war halt schon immer die Experimentierfreudigere in unserer Beziehung», sagt sie im Gespräch mit SI online. Schulterzuckend und nicht etwa rechtfertigend.
Von erotischen Spielzeugen oder Pornos, die sie nach Hause brachte, hielt ihr Partner nur wenig. «Einmal ausprobiert und sofort wieder in der Ecke gelandet.» Eines Tages hat sie sich im Ausgang ganz bewusst einen Typen für gewisse Stunden geangelt. Seither sucht sie regelmässig ein sexuelles Abenteuer auf einem einschlägigen Seitensprung-Portal. «Fast wie eine Droge» sei das. «Ich kann nicht mehr aufhören.» Und ihr Freund? Der wisse nichts davon.
Dann hole ich es mir halt woanders!
Nina ist eine von 245'000 Schweizern, die aktuell bei «Ashely Madison» registriert sind. Als Frau gehört sie zu einer Minderheit: Nur rund 35 Prozent aller Mitglieder sind weiblich. Ein ähnliches Geschlechterverhältnis (70 zu 30 Prozent) weist Konkurrent «Victoria Milan» vor - aber: Die Zürcherinnen fallen dort aus dem Rahmen. «Einzig in Zürich verzeichnen wir mehr Frauen als Männer», sagt PR-Managerin Vera Panczyk. «Ashley Madison»-Pressesprecher Christoph Kraemer stellt auf dem Schweizer Markt eine weitere Besonderheit fest. «In der Alterskategorie um die 20 ist das Geschlechterverhältnis gleich», sagt er. «Jüngere Frauen sind wohl emanzipierter und sagen sich: Wenn mir mein Partner nicht das gibt, was ich verdiene, hole ichs mir halt woanders.» Wie Nina.
Rund 25 Männer habe sie schon getroffen, «ich habe nicht mitgezählt». Für eine Frau sei es einfach, auf Internetportalen einen passenden Liebhaber zu finden. Man werde von Angeboten überhäuft - was wiederum auch anstrengend sein kann. Schon zwei Minuten nachdem Nina das Anmeldeformular mit ihren sexuellen Vorlieben und Wünschen an einen Mann ausgefüllt hat, bekommt sie erste eindeutige Angebote. Wenige Stunden später findet sie schon 400 ungelesene E-Mails in ihrem Postfach vor. Den Grossteil ignoriert sie. Den wenigen, die sich beim Schreiben Mühe gegeben haben, antwortet sie. Und triftt sie, wenns weiterhin passt. Einen sieht sie heute noch, er wohnt nur wenige Gehminuten von ihr entfernt. «Daraus ist eine intensive Affäre entstanden. Wir haben nicht nur Sex miteinander, wir sprechen auch über Gott und die Welt. Er hat Priorität.»
VIER JAHRE KEINEN SEX MEHR
Remo* weiss von der Angebotsflut bei den Frauen. Seine Mails sind oft unbeantwortet geblieben - und das hat sich zusammengeläppert. Denn im Gegensatz zu den Frauen zahlen die Männer für jede Kontaktaufnahme. Der 45-jährige Zürcher hat seine Strategie deshalb inzwischen geändert. «Ich schreibe die Frauen nicht mehr an. Ich gebe genau an, was ich suche - und lasse mich dann von ihnen kontaktieren.» Was er sucht? Auf One-Night-Stands habe er keine Lust, es sollen schon längere Affären sein. Am See hat er sich erstmals mit einer Internet-Bekanntschaft auf ein unverbindliches Gespräch getroffen. Es kam nur zum Kuss. «Aber da merkten wir schon, dass es passt.» Zurzeit datet er zwei Frauen abwechslungsweise, etwa alle zwei Wochen. Die eine ist solo, die andere verheiratet. Beide wissen nicht, dass er zweigleisig fährt. Und er weiss nicht, was sie nebenbei noch am Laufen haben. Sie lieben sich in Stundenhotels, anschliessend kehren sie wieder in ihren Alltag zurück. Bei ihm heisst das: nach Hause zu seiner Ehefrau, mit der er seit zehn Jahren verheiratet ist.
Für mich sind die Affären erweiterte Selbstbefriedigung
Seine Frau lässt er im Glauben, mit seinem besten Freund unterwegs zu sein, wenn er sich mit seiner Affäre trifft. Der Kumpel ist sein Alibi. Und der einzige, der von den regelmässigen Seitensprüngen weiss. Gewissensbisse? Mitnichten. Seit vier Jahren habe er mit seiner Frau keinen Sex mehr, weil sie wegen diverser Tiefschläge, auf die Remo nicht näher eingehen möchte, emotional blockiert sei. «Für mich sind die Affären erweiterte Selbstbefridigung». Sich von seiner Frau trennen kommt für ihn trotzdem nicht in Frage. «Ich liebe sie ja. Mein Herz vergebe ich nicht.»
Den vollkommenen Partner gebe es nun mal nicht, sagt Christoph Kraemer von «Ashley Madison». «Die meisten möchten ihre Beziehung nicht beenden, weil sie zu 80 oder 90 Prozent ja auch stimmt. Den Sex ausserhalb brauchen sie aber.» Ähnliches hat «Victoria Milan» bei einer nicht repräsentativen Umfrage festgestellt. «Die Leute zweifeln nicht daran, den Lebenspartner gefunden zu haben.» Sex und Liebe - das werde strikt getrennt.
MEHR ALS DIE HÄLFTE LIEBT FREMD
Experten gehen international von einer Untreuequote von 40 bis 50 Prozent aus, auch für die Schweiz. Die Erhebungen von Schriftstellerin Julia Onken («Die Kirschen in Nachbars Garten») sind noch pessimistischer: 64 Prozent aller Befragten leben nicht monogam, und 21 Prozent der männlichen Seitenspringer gehen notorisch fremd. Salonfähig ist der Seitensprung deshalb aber längst nicht: 68 Prozent der Deutschschweizer und 80 Prozent der Deutschschweizerinnen behaupteten, sie seien in den vergangenen fünf Jahren nie fremdgegangen. Das hat eine Studie der Universität Bern aus dem Jahr 2006 ergeben.
Wie sehr das Fremdgehen hierzulande ein Tabuthema ist, hat der norwegische Anbieter «Victoria Milan» bei seinem Start in der Schweiz Anfang dieses Jahres erfahren. «Man hat verhalten auf uns reagiert, wir hatten Anlaufschwierigkeiten», sagt PR-Managerin Vera Panczyk. Viel Presse und Werbung sei nötig gewesen, um die Hemmungen zu nehmen. Inzwischen gehören die 25'000 registrierten Eidgenossen zum wichtigen Kundenkreis. Von der hiesigen Zahlungskraft profitiert auch «Ashley Madison». Von 28 Ländern, in denen der Anbieter tätig ist, ist die Schweiz zum siebtwichtigsten Markt herangewachsen - noch vor Deutschland, Frankreich und Italien. Christoph Kraemers Erklärungsversuch: «In einem so kleinen Land ist Diskretion wichtiger als anderswo. Und je konservativer die Kultur, desto grösser das Verlangen nach Verbotenem.»
Remo hat nicht vor, seiner Ehefrau jemals von seinem Doppelleben zu erzählen. Dafür habe sie eine zu gutbürgerliche Erziehung genossen. Und es würde sie zu sehr verletzen. Nina hingegen hat sich inzwischen von ihrem Freund getrennt. Es ging nicht mehr, «die sexuelle Unlust», wie sies bezeichnet, war zu gross. In ihrer nächsten Beziehung will sie alles anders machen. Nicht etwa aufs Fremdgehen verzichten - aber mit ihrem Partner offen darüber sprechen. Denn sie ist sich sicher: Nie wieder werde sie auf Sex mit unterschiedlichen Männern verzichten können. Und das sei auch okay so.
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