Der Himmel über der Alp Scheidegg hängt tief. Stefan Keller, 54, zieht seine Daunenkapuze hoch, holpert mit seinem Rollstuhl auf die Anhöhe neben dem Gasthaus, sein rechtes Bein zuckt. «Die verfluchten Schmerzen», sagt er, «schöne Schiisdräck.»
Nur zehn Minuten später schwebt er mit seinem Gleitschirm hoch in der Luft und könnte glückseliger nicht sein: «Juchuuu!»
Da ist der Mann, der durch den Rollstuhl notgedrungen mit der Erde verbunden ist. Dort ist der Mann, der leicht wie ein Papierdrachen durch die Luft gleitet. Wie geht das zusammen?
Stefan Keller fliegt – im Rollstuhl!
Sein Credo lautet: «Geht nicht, gibts nicht.» Diese Worte haben sich in seinem Oberstübchen eingenistet, da war er noch ein Bub, der mit Modellflugzeugen spielte. Und immer wenn Zweifel hochkommen, erinnert er sich daran.
Wie damals, 2013, als Keller mit dem Gleitschirm abstürzt und sich den Rücken bricht. Angetrieben von seinem Optimismus kehrt er nach elf Monaten mit einem umgerüsteten Rollstuhl in die Luft zurück.
Ich habe eigentlich immer Schmerzen», sagt er, «ausser wenn ich fliege.
Seit elf Jahren führt Keller in Langendorf SO eine Gleitschirmschule, Ende Jahr hört er auf.
Vor der Pensionierung gibts die grosse Alpen-Überquerung
Doch vorher will er sich noch einen Traum erfüllen: mit Gleitschirm und Rollstuhl die Alpen überqueren, von Norden nach Süden.
Und weil er ein Typ ist, für den das Leben auch ein Spiel ist, erfindet er Regeln dazu: Erstens gibt er sich für die Strecke maximal 96 Stunden, zweitens will er mindestens die Hälfte fliegend zurücklegen. Drittens darf er sich nur dann, wenn die Strasse mehr als sechs Prozent ansteigt, ziehen lassen oder die Bergbahn nehmen.
Seine Volontärin Nathalie Saj, 22, begleitet ihn mit dem Auto.
Nun kreist er also über der Alp Scheidegg – «war geil, der Start», wird er später sagen. Ziel ist Ascona, Luftlinie etwa 130 Kilometer. Welchen Weg er wählt, will er von der Thermik abhängig machen.
Als Rollstuhlfahrer ist sich Keller Hindernisse und Umwege gewohnt: ein Tischbein am falschen Ort, fehlende Haltegriffe in der Toilette. Doch auf seiner Alpenüberquerung entdeckt er noch ganz neue Schranken.
Barriere 1: Die Vorstellung
Kurz nach dem Start lässt der Wind nach. Keller landet in Goldingen ZH, nicht weit vom Startplatz entfernt. Flaches Gelände mit Einfamilienhäusern und Gartenzwergen. «Ich muss meine Taktik ändern.» Eigentlich wollte er mit dem Gleitschirm möglichst viel Strecke machen, nun muss er vorläufig rollen. Stefan Keller grinst, weisse Zähne im gebräunten Gesicht.
Er hat früh gelernt, Pläne zu ändern. Im vierten Lehrjahr als Mechaniker bekam er 20-jährig eine Tochter, ein Jahr später einen Sohn. «Da war Papisein angesagt, nicht mehr wildes Leben.» Er sagt das ohne Bedauern. Es ist ein Ja zu dem, was ist. Heute ist Keller geschieden und Single.
Barriere 2: Die Müdigkeit
Der erste Tag endet dann doch noch mit einem Gleitschirmflug. Keller parkiert seinen Rollstuhl auf dem Hüsliberg bei Schänis SG. Er braucht doppelt so lange wie sonst, bis er flugbereit ist. «Mit dieser Anstrengung habe ich nicht gerechnet.»
Ein Spannen in den Schultern, Krämpfe in den Beinen. «Ich habe eigentlich immer Schmerzen», sagt er, «ausser wenn ich fliege.» Die Sonne steht tief, die Luft riecht nach Feierabend.
Es ist genau die Tageszeit, als Stefan Keller vor vier Jahren vom Himmel fällt. Auf dem Montoz im Jura will er für seine Flugschüler die Luftbedingungen prüfen und wird von einer heftigen Turbulenz erfasst. Der Gleitschirm klappt nach unten, Keller stürzt aus 20 Metern Höhe auf den Boden.
Mir hat geholfen, dass ich wusste: Jetzt ist das Leben nicht fertig, es fängt von vorne an.
Seither ist er inkomplett querschnittsgelähmt. Kurze Strecken schafft er zu Fuss an Stöcken. «Aber damit fühle ich mich behindert, im Rolli bin ich viel flinker.» Schon vor seinem Unfall hatte er mit Rollstuhlfahrern zu tun: Er unterrichtete sie im Gleitschirmfliegen.
Ein schlechter Scherz des Schicksals, dass ausgerechnet er im Rollstuhl landet? «Mir hat geholfen, dass ich wusste: Jetzt ist das Leben nicht fertig, es fängt von vorne an.»
Ist sein Unfall nicht schlechte Reklame für seine Flugschule? «Ich habe nicht weniger Flugschüler als früher.»
Barriere 3: Die Fussgänger
Tag zwei, Keller ist 47 Kilometer gerollt: von Näfels GL über den Pragelpass nach Muotathal SZ. Nun nimmt er die Bergbahn Richtung Fronalpstock, sein Flugziel ist Flüelen UR.
Früher war ich noch viel verrückter, da bin mit einem gesunden Rücken geflogen.
«Waaas? Sie fliegen mit Rollstuhl?», fragt die Frau im Kassenhäuschen. «Fussgänger haben oft Barrieren im Kopf», erklärt Keller. Immer wieder hört er: «Du bist verrückt, mit einem kaputten Rücken zu fliegen!»
Darauf sagt er: «Früher war ich noch viel verrückter, da bin mit einem gesunden Rücken geflogen.» Es ist eine typische Keller-Antwort, lustig – und etwas kalkuliert. Er weiss, dass er den Zuhörer damit zum Schmunzeln bringt.
Er habe sehr viel Medienpräsenz. Die grosse Aufmerksamkeit ist ihm jedoch auch schon zum Verhängnis geworden: nach dem Unfall, als er überschwemmt wurde von Besuchern und Briefen. Seine damalige Partnerin stand aussen vor – und trennte sich von ihm.
«Da ging ich durch ein Tal der Tränen.» Zum ersten Mal auf dieser Reise schleicht sich Schwermut in sein Gesicht.
Barriere 4: Der Gotthard
Am dritten Tag überlegt Keller in Andermatt UR, wie er den Gotthardpass bezwingen könnte – «ein steiler Cheib». Da kommt ihm die Idee mit der Gotthardpost. Eine Fahrt nach Airolo kostet 680 Franken. Oder wie das Beispiel Keller zeigt: einen charmanten Vorschlag.
Er überzeugt den Kutscher, ihn an einer Bandschlinge bis zum Hospiz zu ziehen. «Ich habe schon immer verdammtes Glück», sagt er auf der Passhöhe bei einer Bratwurst.
Barriere 5: Die eigenen Regeln
Am vierten Tag setzt Keller auf dem Locarneser Hausberg Cimetta zum letzten Flug an – und landet wenig später auf dem alten Flugplatz in Ascona TI.
74 Stunden, 270 Kilometer im Rollstuhl, 5 Gleitschirmflüge – was für eine Leistung!
Und doch hat Keller (nach seinen Regeln) den Wettkampf verloren. Weil er über die Hälfte der Strecke rollend zurücklegt hat statt fliegend. «Hätte ich gewusst, dass ich rollend so schnell bin, wäre ich gar nicht auf diese Regel gekommen.»
Stefan Keller bleibt ein Optimist. Getrieben von der Sehnsucht nach der Luft. Vom Heimweh nach dem Himmel.