Für Sara Pinösch, 20, ist es fast so, also würde sie ein verschollenes Familienmitglied nach über zwei Jahren wiedersehen. Als die junge Frau am Mittwoch die Freiberger Stute Nelli im Stall des Kompetenzzentrums der Armee in Schönbühl BE entgegennehmen kann, laufen ihr die Tränen über die Wangen. «Ich habe mir vorgenommen, nicht zu weinen. Doch ich kenne Nelli fast mein ganzes Leben lang!»
Sara streichelt der abgemagerten 18-jährigen Stute über die Stirn und drückt ihren Kopf liebevoll an den Hals des Tieres. «Als ich die Bilder der Pferde im Internet gesehen habe, erkannte ich Nelli sofort. Aber ich war schockiert, wie dünn sie ist!»
Nelli ist eines der 93 geretteten Pferde vom Hof des Thurgauer Tierquälers Ulrich K. Die grausigen Bilder einer ehemaligen Mitarbeiterin, die den Skandal an die Öffentlichkeit brachte, haben die ganze Schweiz erschüttert: Fohlen, die verdreckt und bis auf die Rippen abgemagert leblos im Heu liegen, verschimmeltes Brot in den Futtertrögen, rosa glänzende Wunden.
Unglaublich: Obwohl ihr Besitzer Ulrich K. bereits 2011 wegen Tierquälerei verurteilt worden war, durfte er weiter Pferde halten – und erhielt erst noch Direktzahlungen! Bis sein Hof vor rund zwei Wochen von den Behörden zwangsgeräumt wurde.
Seitdem sind Nelli und ihre Leidensgenossen in der Obhut von Oberst Jürg Liechti, 55, und seinen Rekruten vom Kompetenzzentrum Veterinärdienst und Armeetiere. «Ich freue mich, wenn die Pferde nun ein schönes Zuhause bekommen», sagt Liechti. Zusammen mit ihrem Vater Anton Pinösch, 63, ist Sara mit einem Pferdetransporter aus dem Engadiner Bergdorf Sent nach Schönbühl gefahren.
Sie holen nicht nur Nelli hier ab, sondern auch die neunjährige Stute Conchita. Beide Tiere lebten zuvor auf dem Hof von Ulrich K. Doch weshalb waren sie überhaupt dort eingestellt? «Wir wussten nicht genau, wo die Tiere sind. Sie waren verschollen!»
Es ist eine Familientragödie: Anton Pinösch besass ursprünglich vier Pferde. Früher hat er diese vor seine Kutsche gespannt. «25 Jahre war ich mit Leib und Seele Kutscher, habe neben meinem Job als Gemeindearbeiter die Touristen in Sent rumgefahren.» Dann gab er drei der Pferde an seine Töchter aus erster und zweiter Ehe weiter, Sara und ihre Halbschwester Barbla A. Letztere hatte in Mels SG einen Hof und bot dort Reit-Therapien an.
Doch die beiden jungen Schwestern zerstritten sich. Der Vater schritt ein, wollte die Pferde wieder nach Sent bringen. «Eine Stute konnte ich noch abholen. Doch als ich wiederkam, waren die anderen beiden verschwunden.»
Die Schwester ist die Freundin des Tierquälers
Es folgte ein langer Rechtsstreit, in dem Anton Pinösch unterlag. «Ich habe so für meine Pferde gekämpft», sagt er. Aber seine Tochter Barbla habe behauptet, er habe ihr die Tiere geschenkt. «Das ist nicht wahr!» Erst aus der Presse erfahren Anton Pinösch und Sara, dass Barbla seit einiger Zeit die Freundin des Tierquälers Ulrich K. ist. «Das war ein Schock für uns.» Laut «Blick» soll sie ihre eigenen Tiere ebenfalls in Hefenhofen TG untergestellt und Ulrich K. bei seinen Tätigkeiten als Händler unterstützt haben.
Die Familie hat keinen Kontakt mehr zu Barbla. «Für uns ist in erster Linie wichtig, dass es Nelli und Conchita wieder gut haben», sagt Sara Pinösch. Gerade Nelli braucht besondere Pflege. Seit acht Jahren leidet die Stute an einer Lungenkrankheit, reagiert allergisch auf Heu und Staub.
«Sie benötigt Medikamente, und das Heu muss regelmässig mit Wasser abgespritzt werden», erklärt Sara. Mit Pässen vom Schweizerischen Freibergerzuchtverband, auf denen jeder Fellwirbel eingezeichnet ist, konnten die Pinöschs beweisen, dass die beiden zu ihnen gehören. «Die Armee hat einen super Job gemacht», sagt Anton Pinösch, schüttelt Oberst Liechti die Hand und führt die beiden Pferde zum Anhänger. «Auf nach Hause ins Engadin!»
Nach einer vierstündigen Fahrt sind die beiden in ihren Ställen in Sent angekommen. Anton Pinösch freut sich, die Pferde wieder zu beschäftigen. «Vielleicht kann ich mit Conchita sogar Kutsche fahren!» Sara ist einfach nur glücklich, mit der alten Dame Nelli wieder spazieren zu gehen. «Endlich hab ich sie wieder!»