Als die achtjährige Rosa aus Escholzmatt LU am 13. Oktober 1944 morgens das Stägeli vom Schlafzimmer zur Küche hinabsteigt, wundert sie sich über die zwei Nachbarinnen, die beim Grosi sitzen. Das Kind schaut die Frauen mit fragendem Blick an: Was wollt ihr?
76 Jahre sind seit dem Tag vergangen, doch Rosa Studer, 84, erinnert sich genau und erzählt mit tränenerstickter Stimme: «Sie sagten, s Mueti und de Vati kommen nicht mehr heim; sie sind im Wasser ertrunken.» Die Grossmutter schickt das Mädchen in die Dorfkirche. «Als ich ankam, las der Pfarrer gerade die Namen der Toten vor, darunter den unserer Mutter und unseres Vaters.» Tränen rinnen über die Wangen der alten Frau. «Da wusste ich: Sie kommen wirklich nie mehr nach Hause.»
Rosa Stadelmann-Studer und ihre Schwester Lisbeth Lischer-Studer, 85, von allen Lisi genannt, verlieren am 12. Oktober 1944 bei einem der grössten Unglücksfälle der Schweiz mit einem motorisierten Schiff ihre Eltern. Sie gehörten zu einer Hochzeitsgesellschaft aus dem Entlebuch. Auf dem Heimweg von St. Niklausen nach Luzern passiert es: Das Motorschiff «Schwalbe» der Festgesellschaft kollidiert auf dem Vierwaldstättersee beim Haslihorn mit dem Nauen «Schwalmis». Vom Zusammenstoss mit dem 39-Tonnen-Lastkahn bis zum Untergang des leichteren Motorschiffs vergeht gerade einmal eine halbe Minute. In diesen 30 Sekunden verlieren 20 Personen ihr Leben. 13 können sich retten, darunter der Bräutigam Gottfried Studer. Seine Braut Pia ertrinkt.
Nach dem Unglück rufen Fremde aus der ganzen Schweiz die Behörden an, wollen Kinder aufnehmen. Lisi Lischer erinnert sich: «Wir wussten, dass man uns verteilen wollte, das hatte man uns so gesagt. Jedes von uns fünf Geschwistern wäre an einen anderen Ort gekommen – der Gedanke machte uns grusig Angst.» In ihrer Not, so erzählt Lisi, sagten sie dem jungen Knecht, den die Eltern in der Käserei beschäftigt hatten, er solle alle fünf im Heizungskeller einschliessen, wenn die Behörden kämen, um sie abzuholen. Sie würden dort mucksmäuschenstill ausharren. Der Dorfpfarrer und die Bauern im Ort setzen sich dafür ein, dass die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können. Der überlebende Bräutigam übernimmt die Vormundschaft der meisten 14 Waisen.
Lisi, Rosa und ihre drei kleinen Geschwister werden vom Bruder und einer Schwester der verstorbenen Mutter grossgezogen. «Tante Käthi und Onkel Söpp kümmerten sich wirklich gut um uns, sie zogen zu uns in die Käserei, so konnte auch die Grossmutter bei uns bleiben.» Als Rosa und Lisi später eigene Kinder haben, denken sie oft: Wie schafften die Tante und der Onkel das nur? Sie hatten bis dahin gar nichts mit Kindern zu tun. «Und plötzlich rannten wir fünf in der Stube um sie rum.»
Noch etwas brennt sich den Schwestern tief im Inneren ein, als sie Mütter von vier (Rosa) und sieben Kindern (Lisi) werden. «Machte mein Mann mit den anderen Schreinermeistern einen Ausflug, sagte ich: ‹Geh, habs schön – aber ich bleibe zu Hause!› Meinen Kindern sollte nicht das passieren, was mir widerfuhr», sagt Rosa. Lisi nickt zustimmend: «Auch ich sagte immer zu meinem Mann, dass einer von uns daheimbleiben muss. Die Angst, die eigenen Kinder könnten wie wir ihre Eltern verlieren, steckte tief in uns drin.» Lisi hat heute 18 Enkelkinder und 18 Ur- enkel, Rosa ist achtfaches Grosi.
Lange Zeit ist das letzte Bild an die Eltern das der aufgebahrten Särge in der Kirche von Escholzmatt. «Immer wenn ich mich an Mueti und Vati zurückerinnern wollte, sah ich nur diese Särge», sagt Lisi leise. Rosa: «Du hattest lange Zeit böse Träume davon.» Beide hätten sie damals schon gewusst, was der Tod ist. «Aber in unserer kindlichen Fantasie malten wir uns aus, wie Mutter und Vater plötzlich zur Tür hereinkämen.» Rosa betet immer wieder darum, die Mutter noch einmal sehen zu dürfen. «Und dann hatte ich tatsächlich einen Traum: Die Küchentür ging auf, und s Mueti kam zur Stube rein. Sie guckte, ich guckte, aber wir konnten beide kein einziges Wort sagen.»
Erinnern können sich Lisi und Rosa bis heute an Dinge, die ihre Eltern sagten oder taten. «Vater war ein fröhlicher Mann, der viel sang, Handorgel spielte, uns Töchtern auch gern einen Streich spielte. «Einmal warf er in der Dunkelheit Kieselsteine ans Fenster», erinnert sich Lisi lachend. Rosa fürchtete sich. Lisi ging nachsehen – und ertappte so ihren Vater bei dessen Streich.
Drei Jahre nach dem Unglück stehen Lisi als Zwölfjährige und Rosa als Elfjährige erstmals selbst am Ufer des Vierwaldstättersees. Während ihre Schulgspänli freudig aufs Schiff strömen, stehen die Schwestern wie gelähmt davor. Rosa sagt: «Wir können das nicht.» Die Lehrerin habe sie nur angeschaut und gesagt: «Glaubst du, wir wollen ertrinken? Wir wollen alle gesund heimkommen. Ihr kommt mit!» Beide müssen an der Hand aufs Schiff geführt werden, Rosa drückt sich an die Kabinenwand, obwohl sie gern einen Blick über den Bug des Schiffes geworfen hätte.
Verflogen ist ihre Angst nie. «Ausflüge auf dem Vierwaldstättersee machten wir später zwar gern und oft – aber nur auf grossen Dampfschiffen.»
«Es geschah am ... Bis dass der Tod euch scheidet», Samstag, 28. November, 20.10 Uhr, SRF 1