Die 12-jährige Anita sitzt verträumt am Frühstückstisch und trödelt. Eine Stunde vorher hat ihre Mutter sie mit Mühe aus dem Bett geholt, aber alles Zureden hilft nicht. Ihre Freundin wartet schon an der Haustür. Wenn die Mutter entnervt die wartende Schulkollegin alleine losschickt, geht es mit Anita durch: Beleidigt knallt sie die Tür zu. Sie hat sich doch so viel Mühe gegeben, rechtzeitig fertig zu sein! Ihre Mutter fühlt sich schuldig: «Was haben wir bloss falsch gemacht?»
Ihr Bruder Matthias ist ganz anders. Morgens um halb sechs hüpft er am Bett der Eltern ungeduldig auf und ab. Auch er kommt nicht richtig zum Essen, aber aus anderen Gründen: Er hat keine Zeit! Eilig stopft er ein paar Löffel Cornflakes in sich hinein, stösst dabei das Milchglas um, während er auf seinem Stuhl unruhig herumrutscht.
Fortsetzung am Nachmittag: Während es Matthias wieder einmal gelingt, sich nach der Schule zum Fussballspielen wegzuschleichen, ohne die Hausaufgaben zu machen, sitzt Anita drei Stunden an ihrem Pult und starrt abwesend in ihr leeres Rechnungsheft, das dafür mit vielen gekonnt gezeichneten Fabeltieren verziert ist. Bis zum Znacht gibt es heftige Diskussionen mit der Mutter. Der Tag endet wie so oft mit Tränen. Matthias brachte einen Brief des Lehrer mit nach Hause. Sein impulsives Benehmen führt einmal mehr zu einem Elterngespräch.
«Fünf bis zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von ADHS – dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom betroffen», sagt Dr. Béatrice Werlen. ADHS hat viele Gesichter. Die hyperaktiven, lauten Kinder, die nie still sitzen können, sind als die klassischen Zappelphilippe bekannt. Die anderen, die wie Anita verträumt herumsitzen und mit ihren Gedanken stets woanders zu sein scheinen, werden öfter nicht erkannt. Beiden Ausprägungen ist gemeinsam, dass die Kinder den gesellschaftlichen Anforderungen nicht genügen. Eine weitere Gemeinsamkeit: die Schuldgefühle der Eltern.
ADHS – eine Stoffwechselstörung im Arbeitsgedächtnis des Grosshirns. Dort befindet sich der Sitz der exekutiven Funktionen, mit denen wir das Leben organisieren. «Durch das Ungleichgewicht von Hirn-Botenstoffen haben ADHS-Betroffene Schwierigkeiten mit Selbstorganisation, Zeiteinteilung, Unterscheidung wichtig/unwichtig und der Planung von Lebensaufgaben», sagt Dr. Werlen. Zudem funktioniert die Steuerung der Impulskontrolle und der Emotionen nur mangelhaft. Sie können aus den nichtigsten Gründen explodieren. Das führt zu Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, zu Freundschafts-Abbrüchen und erklärt bei Erwachsenen die erhöhte Scheidungsrate. Auch das Risiko für Unfälle ist deutlich grösser.
Wichtig: Die Erziehung ist nicht schuld daran. ADHS ist genetisch bedingt und wird vererbt. ADHS ist eine Familienangelegenheit im doppelten Sinne: Die gesamte Familie wird durcheinandergebracht. Hinzu kommt die erbliche Komponente: Manch ein Elternteil erinnert sich beim Verhalten des eigenen Kindes daran, in der Jugend dieselben Schwierigkeiten gehabt zu haben. Häufig sind ein oder beide Elternteile, die Geschwister, der Grossvater oder sonst ein Verwandter ebenfalls betroffen.
«Bei Erwachsenen ist die Störung schwieriger erkennbar, da sie sich im Laufe des Lebens Strategien angeeignet haben, mit den Symptomen umzugehen», erklärt die Psychologin. Zudem gehen Erwachsene davon aus, dass es sich bei ihnen um bestimmte Charaktereigenschaften handelt («ich bin halt eher der chaotische Typ») oder um Reaktionen auf die Umwelt. Zum Beispiel, dass sie halt impulsiv und gereizt sind durch den beruflichen Stress.
ADHS ist keine Modediagnose. Unaufmerksam sind wir alle ab und zu. Der Unterschied liegt in der Reaktion: ADHS-Betroffene, Kinder wie Erwachsene, finden nach einer Ablenkung nicht mehr zurück zur angefangenen Aufgabe. Typisch ist ein hohes kreatives Potenzial, verbunden mit unzähligen angerissenen, nie zu Ende gebrachten Projekten.
Bei zwei Dritteln aller Betroffenen bleibt ADHS ein lebenslanger Begleiter. Diese Erkenntnis löst in den Familien oft erst einen Prozess des Nicht-Akzeptierens, dann der Trauer aus. «Wenn jedoch alle einmal zwei zentrale Punkte verstanden haben, kann der Heilungsprozess für die ganze Familie beginnen», weiss Dr. Werlen. Erstens, dass sich ein Kind nicht absichtlich schlecht verhält, etwa aus mangelndem Willen oder böser Absicht. ADHS-Kinder beziehen durchschnittlich viermal so viele Strafen wie andere Kinder. Und zweitens, dass ADHS eben nicht durch die Eltern verursacht wird. Wenn den Eltern diese schwere Bürde der angeblichen Schuld von den Schultern genommen wird, werden sie wieder handlungsfähig.
Gewinnen Sie Selbstvertrauen. Bauen Sie auf die vielen positiven Ressourcen, welche diese Besonderheit mit sich bringt. Es geht nicht um die Heilung von ADHS, sondern um die Heilung des verletzten Selbstwertes, der Familie als Ganzes. Ihr sollte immer bewusst sein: Menschen mit ADHS sind zwar anders, verfügen aber über eine hohe Sensibilität, oft verbunden mit hoher Intelligenz und Kreativität. Die Kunst besteht darin, den angemessenen Platz im Leben zu finden.
Das zeigt sich auch bei unserer Familie. Sie hat Hilfe in Anspruch genommen und war bereit, einiges zu ändern. Es gibt gemeinsame Unternehmungen statt Kampf. Die Velotouren am Wochenende kommen auch der inneren Angetriebenheit des Vaters entgegen. Er selber hat sich zudem für einen Meditationskurs angemeldet.
Matthias darf in den Kampfsport, und zwar nicht erst, wenn er sich in der Schule besser zusammennimmt. Dadurch ist es ihm möglich, seine Impulsivität positiv auszuleben. Anitas Tobsuchtsanfälle kommen viel seltener vor, weil sie nach sorgfältiger Abklärung ein Medikament erhält. Erstmals ist es ihr möglich, zu verstehen, worum es bei den Rechenaufgaben geht. Und es geschieht nun schon ab und zu, dass sie ihre Sachen rechtzeitig bereithat.
Genauso wichtig ist die Fokussierung auf ihre positiven Eigenschaften, die vorher untergegangen sind: Die Eltern anerkennen nun ihre guten Aufsätze und ihr Talent beim Zeichnen – anstatt sie für das Unverständnis im Rechnen zu kritisieren.
Auch die Beziehung der Eltern untereinander ist durch die neue Perspektive viel entspannter geworden. Gespräche mit der Psychologin haben ihnen wichtige Hinweise gegeben.