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Krankhaftes Übergewicht - Teil 1

Letzte Hoffnung: Magen-OP!

Zusammen wiegen sie über 250 Kilo. Sabine Sachse und ihr Sohn Steve leiden unter Adipositas. Seit Jahren versuchen sie abzunehmen – ohne Erfolg. Für Sabine Sachse geht bald der grösste Wunsch in Erfüllung: eine chirurgische Magenverkleinerung.

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Zwanzig Treppenstufen! So weit ist es von der alten Holzbrücke in Stein AG bis zur Rheinpromenade. Jeder Tritt ist für Sabine Sachse eine Herausforderung, Stufe für Stufe wird sie daran erinnert, dass ihr Gewicht sie am normalen Leben hindert. 136 Kilo wiegt sie mittlerweile. «Ich komme nicht damit klar, das kann ich einfach nicht akzeptieren», sagt sie und stützt sich kurz am Treppengeländer. Die Knie, der Rücken, alles bereitet der 52-Jährigen Schmerzen.

Ihr Sohn Steve, 32 Jahre alt und 126 Kilo schwer, wartet unten auf sie. «Mir wird es bald gleich gehen, wenn nicht etwas passiert.» Genau wie seine Mutter möchte er sich chirurgisch den Magen verkleinern lassen. Einen anderen Ausweg sehen die beiden nicht. «Ich weiss, was alle denken. Die sollen doch einfach weniger essen. Aber so einfach ist das nicht. Wir haben schon alles probiert.»

Sabine und Steve Sachse sind nicht einfach zu dick, sie sind krank. Die Diagnose: Adipositas. Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation gehört zu dieser Gruppe, wer einen Body-Mass-Index von über 30 hat. In den letzten 20 Jahren hat sich in der Schweiz die Zahl der adipösen Menschen verdoppelt – rund jeder zehnte leidet darunter. Das Problem betrifft die ganze Welt: 2,1 Milliarden Menschen sind heute übergewichtig oder adipös. Die Ursachen für Fettleibigkeit sind eine Kombination von genetischer Veranlagung, ungesundem Lebensstil und psychischen Faktoren wie Stress, Einsamkeit oder Frustration. Die Folgen: Herzkrankheiten, Schlaganfall, Diabetes Typ 2, Arthrose und Krebs.

Als Sabine Sachse auf dem Uferweg angekommen ist, braucht sie eine Verschnaufpause. «Ich habe Angst, dass ich wegen der Schmerzen umkippe», sagt sie. Der Rücken, die Knie – ihr Körper kann das Gewicht kaum mehr tragen.

Angefangen hat es als Mädchen, als sie mit ihrer Mutter und dem Stiefvater noch in der DDR lebt. Beide waren Alkoholiker. «Essen hat mich immer am besten getröstet», sagt sie. Mit 34 Jahren hatte sie vier Schwangerschaften hinter sich und wog 126 Kilo. Damals hat sie sich für ein Magenband entschieden und 50 Kilo abgenommen. «Ich konnte wieder schwimmen, Velo fahren und fand mich schön», erinnert sie sich. «Ich weiss, wie es ist, wenn ich normal bin.»

In den letzten zwei Jahren hat Sabine Sachse 50 Kilo zugenommen. Das Magenband, das sie vor zehn Jahren nochmals erneuern liess, schien plötzlich nicht mehr zu funktionieren. In ihrem Kleiderschrank hängen noch drei Paar Hosen und vier Oberteile – alles andere passt nicht mehr. «Das Schlimmste ist, wenn ich mich selber im Spiegel sehe», sagt Sabine Sachse. Ihrem Mann verbietet sie, ihr beim Anziehen zu helfen. Obwohl sie schon für die Socken eine halbe Ewigkeit braucht. «Der Bauch ist mir einfach im Weg», sagt sie und lacht. «Also erotisch ist das nicht, keiner kann mir erzählen, dass Dicke schön sind.»

Steve Sachse getraut sich schon lange nicht mehr ins Schwimmbad. Schliesslich weiss er von früher selber, wie über Dicke gelästert wird. Er nahm erst mit 18 Jahren zu, als er von zu Hause ausgezogen ist und eine Lehre als Koch angefangen hat. Zum Feierabend um elf Uhr nachts gabs jeweils noch mal ein komplettes Menü. Jetzt isst er vor allem abends, wenn er alleine vor dem TV sitzt. «Sobald ich mich aufs Sofa setze, beginne ich an Chips, Schokolade und Kekse zu denken. Eine halbe Stunde halte ich es aus, dann gehe ich in die Küche und hole mir etwas.» Einmal hat er aus eigenem Antrieb acht Kilo abgenommen. Er machte Sport, ernährte sich gesund. «Aber mein Kopf wollte etwas anderes. Ich habe es einfach nicht geschafft.» Die verlorenen Kilos waren schnell wieder drauf. Vor einem Jahr sah er keinen anderen Ausweg mehr: Er liess sich wie seine Mutter ein Magenband einsetzen. Ergebnis: minus null Kilo. Wegen eines operativen Fehlers hat es nie funktioniert. Nur die anfänglichen Schmerzen haben ihm ein paar Tage lang den Appetit verdorben.

Sabine Sachse bezeichnet sich als süchtig. Süchtig nach Essen: «Ich bin nie satt und kann oft an nichts anderes denken.» Am Morgen bringt sie fast nichts runter, ein halbes Brötchen vielleicht. Aber schon nach einer Stunde spürt sie den Hunger. Dann muss etwas her: «Was, das ist mir egal!» Sie isst eine Banane, wartet auf das Sättigungsgefühl. Danach macht sie sich ein Brot mit Käse. Das hält für ein Weilchen. «Ich esse nicht den ganzen Tag Junkfood. Auch wenn das viele meinen. Bei mir sind es die vielen kleinen Portionen, die es ausmachen. Es ist insgesamt einfach zu viel.»

Diäten hat sie bereits alle probiert: Kohlsuppendiät, Eierdiät, Weight Watchers, Ernährungsberatung und Kuraufenthalte unter ärztlicher Aufsicht. Sogar die Wurstdiät, die vorwiegend aus Knäckebrot und einem Paar Wiener Würstchen pro Tag besteht, hat sie ein paar Wochen durchgezogen und dabei 18 Kilo abgenommen. Dann kam der Jo-Jo-Effekt, und alles war wieder beim Alten. Bewegen würde sie sich eigentlich gerne, am liebsten schwimmen. «Aber ich kann den Anblick von mir im Badeanzug wirklich niemandem zumuten. Und ich schäme mich zu sehr.»

Langsam macht sich Sabine Sachse wieder an den Aufstieg. Nimmt Treppe um Treppe – 20 Stufen hoch. Die Leute schauen. «Mit jedem Alkoholiker oder Magersüchtigen hat man mehr Mitleid», sagt sie. «Denen sagt man auch nicht, sie sollen einfach weniger trinken oder mehr essen.» In einem Monat wird Sabine Sachse der Magen operativ verkleinert, unter Vollnarkose. Sie hat keine Angst davor. «Schlimmer als jetzt kann es sowieso nicht werden», sagt sie und nimmt nochmals ihre ganze Kraft für die letzte Stufe zusammen.

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DAS SAGT DER EXPERTE: «ADIPOSITAS IST EINE KRANKHEIT»

Prof. Senner, sind Sabine und Steve Sachse an ihrem Übergewicht selber schuld?
Ach, das ist jetzt ein Vorurteil, mit dem alle Dicken zu tun haben. Es ist schon längst nachgewiesen, dass die Fettleibigkeit eine Krankheit ist, die man nicht selber heilen kann.

Ist Adipositas gleichzusetzen mit einer Sucht?
Nein, obwohl man auch von Fettsucht spricht. Es ist deshalb nicht das Gleiche, weil zum Beispiel ein Alkoholsüchtiger primär ein psychisches Problem hat. Bei Adipositas kann die Psyche eine Rolle spielen, muss aber nicht.

Welche Rolle spielt die erbliche Veranlagung?
In Prozenten ist das schwierig auszudrücken. Bei den präoperativen Abklärungen sieht man aber, dass der Stoffwechsel vieler adipöser Personen genetisch belastet ist. Nach eindeutigen wissenschaftlichen Fakten wird aber noch geforscht. Was man weiss: Wenn die Eltern übergewichtig sind, sind es die Kinder in den allermeisten Fällen auch.

Ihre Patienten wiegen bis zu 240 Kilo. Haben alle versucht, mit Diäten abzunehmen?
Ja, ausnahmslos jeder, und zwar mehrmals. Irgendwann haben aber alle aufgegeben, weil einfach keine dauerhaften Ergebnisse daraus resultieren. Die meisten wissen auch überhaupt nicht mehr, was eine normal grosse Portion ist. Zudem haben viele kein Sättigungsgefühl mehr. Das kommt vom grossen Magenvolumen von 1800 bis 2500 Millilitern. Die normale Grösse liegt zwischen 400 und 600 Millilitern.

Welche Abklärungen braucht es, bevor eine Operation überhaupt infrage kommt?
Es gibt internationale und nationale Indikationsregeln die bestimmen, wann eine Operation zur Gewichtsreduktion angebracht ist.

Welches sind diese Kriterien?
Die Patienten müssen zum Beispiel in den letzten zwei Jahren Versuche unternommen haben, auf normalem Weg abzunehmen. Das ist medizinisch und ethisch gesehen wichtig. Dazu kommen psychologische und körperliche Untersuchungen. In Europa muss der BMI über 35 sein, dann ist chirurgisch eine Operation möglich.

Warum bekommen die Sachses kein Magenband mehr, sondern einen Bypass oder eine Magenverkleinerung?
Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Magenbänder relativ viele Komplikationen mit sich bringen. Die Magenverkleinerung und der Magenbypass sind heute die optimale Wahl. Beide Eingriffe verringern im Gegensatz zum Magenband das Magenvolumen und somit auch den Appetit.

Wie viel wird Sabine Sachse nach der Operation wiegen?
In sechs Monaten wird sie etwa 25 bis 35 Kilo leichter sein.

Prof. Dr. Ralf Senner, Adipositas-Spezialist am European Special Management Centre of Obesity Surgery, Zürich. www.escos360.ch.

Von Lisa Merz am 1. November 2014 - 15:48 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 16:48 Uhr