Anna Rossinelli gewann mit ihrer gleichnamigen Band die nationale Ausmarchung und wird die Schweiz am Eurovision Song Contest vertreten. SI Style hat die 23-Jährige mit der klaren Stimme in Basel zum Gespräch getroffen.
Schweizer Illustrierte Style: Was fühlten Sie, als Sie Ihr Lied für Europa, «In Love for a While», erstmals am Radio hörten?
Anna Rossinelli: Ich lag gerade in der Wanne. Georg sass im Wohnzimmer und rief ins Bad: «Hey, die spielen unseren Song!» Ich sprang aus dem Wasser, klebte mich tropfnass ans Radio und war begeistert. Auch heute muss ich jedes Mal schmunzeln, wenn das Lied gespielt wird.
Ihr Freund Georg Dillier, Manuel Meisel und Sie sind die Band Anna Rossinelli. Im Rampenlicht aber stehen Sie allein. Stört das Ihre Kollegen?
Sänger stehen automatisch im Vordergrund, ich denke, das ist normal. Deswegen gab es nie Probleme. Die Band, die wir sind, können wir aber nur zu dritt sein.
Wie entstehen Ihre Lieder?
Je nachdem. Wir arbeiten zu dritt daran, Georg, unser Bassist, Manuel, der Gitarrist, und ich. Wir treffen uns und beginnen an einer Idee zu arbeiten, einmal ist das eine Textzeile, dann wieder eine Melodie.
In Düsseldorf vertraten Sie die Schweiz mit «In Love for a While». Glauben Sie nicht an die ewige Liebe?
Auf jeden Fall glaube ich an die Liebe – egal, wie lange sie hält. Es ist gut, wenn keiner genau weiss, ob oder wann sie endet. Georg und ich sind seit acht Jahren zusammen.
Warum singen Sie auf Englisch?
Weil es eine angenehme Sprache ist. Schon als Kind sang ich englische Songs nach. Spanisch und Französisch würden mir auch gefallen, aber ich spreche beides nicht. Schweizerdeutsch kommt weniger infrage.
Was ist denn typisch schweizerisch an Ihnen?
Ich versuche pünktlich zu sein, bin zuverlässig, zielstrebig, habe aber auch untypische Eigenschaften: Ich bin sehr offen und gehe auf die Leute zu, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das würde ich eher als amerikanisch bezeichnen.
Wie patriotisch sind Sie?
Nicht allzu sehr. Aber selbstverständlich feiere auch ich den 1. August und schaue mir das Feuerwerk an.
Als Sie sechs waren, starb Ihr Vater. Haben Sie den Verlust in einem Song verarbeitet?
Nein, daran ich habe nie gedacht.
Fehlte Ihnen die Vaterfigur?
Nein. Ich habe einen Bruder, der sechs Jahre älter ist als ich. Die männliche Rolle in unserer Familie war besetzt. Zudem war der Lebensgefährte meiner Mutter da.
Wie wurde Ihr musikalisches Talent entdeckt?
Ich habe mich selbst entdeckt. Ich imitierte schon als Kind die Musiker in den Videoclips. Mein Favorit war «Don’t Speak» von No Doubt. Mama musste mich dabei aufnehmen. Um mich musikalisch zu verbessern, nahm ich Gesangsstunden. Am Anfang hatte ich Mühe, wenn andere zuhörten, und drehte dem Publikum den Rücken zu, um mein Gesicht zu verstecken. Mit 14 gab ich das erste Schulkonzert vor 600 Leuten. Ich war extrem aufgeregt. David Klein ist mein Entdecker für den Eurovision Song Contest. Er hörte uns auf der Strasse musizieren, sprach uns an und schrieb den Song.
Auf der Strasse?
Ja. Um unser Repertoire aufzubauen, machten wir die Strasse zur Bühne. In Basel kann man nur vereinzelt Konzerte spielen und muss die Locations lange im Voraus organisieren. Auf der Strasse erreicht man Menschen, die sonst kaum von einem erfahren hätten. Die kommen dann eventuell auch an ein Konzert. Es ist eine gute Schule mit sehr direktem Feedback. Zudem habe ich schon zuvor Erfahrungen gesammelt: Als Mädchen machte ich Strassenmusik mit einer A-cappella-Frauengruppe.
Verdient man viel als Strassenmusikant?
Je nach Ort und Zeit, manchmal in einer halben Stunde hundert Franken. Am Samstag läuft es stets flott. Für etwas Gutes legen die Leute gern ein paar Franken ins Kässeli.
Auf den Vergleich mit Lena Meyer-Landrut, der deutschen Sängerin, die 2010 den Eurovision Song Contest gewann, antworteten Sie: «Es ist Zeit für eine Blondine.» Sind Sie eine typische Bionda?
Ich bin ja eher dunkelblond und habe mich nie typisch blond gefühlt (lacht). Der Spruch hat sich so ergeben. Die Haarfarbe ist schliesslich ein auffälliges Unterscheidungsmerkmal.
Sie arbeiten als Serviertochter und in einem Secondhandladen, um sich das Singen zu finanzieren. Werden Sie von Gästen und Kunden erkannt?
Ja, das kommt vor. Gerade gestern sassen neun Frauen um die sechzig bei uns im Restaurant Rhyschänzli. Sie meinten, es wäre super, wenn ich zum Dessert singen würde.
Und? Haben Sie?
Nein, ich war ja im Service. Aber es hat mich gefreut.
Sie haben sich einst beim Schweizer Fernsehsender 3+ für die Castingshow «Superstar» beworben. Warum?
Früher boten solche Sendungen eine Plattform für Talente, heute ist der Markt übersättigt. Meine Bewerbung kam spontan zustande. Freunde überredeten mich, ans Casting in Basel zu gehen. Zeitgleich bekam ich die Zusage für einen Ausbildungsplatz als Fachfrau für Behindertenbetreuung. Ich musste mich entscheiden – und absolvierte die Ausbildung. Das war richtig.
Wollen Sie wieder als Betreuerin arbeiten, wenn die Karriere als Musikerin schiefläuft?
Eventuell. Dafür braucht es 100 Prozent Zeit und Einsatz.
Besitzen Sie einen Talisman?
Mehrere, etwa Schmuckstücke von meinen Eltern, die ich in der Hosentasche trage. Von meiner Mitbewohnerin und besten Freundin habe ich einen Herzanhänger bekommen. Den Brillantring meiner Mutter trage ich oft an einer Halskette.
Ihr Sängerkollege Baschi meinte, «In Love for a While» sei ein «geiler, flockiger Song».
Sein Lob war toll. Positives Feedback finde ich immer super. «In Love for a While» erntet durchwegs Lob, keiner meint, es sei völliger Mist. Das spricht für die Qualität.
Haben Sie Vorbilder?
Aretha Franklin mit ihrer Wahnsinnsstimme, Ray Charles, Prince, Adele, Beyoncé. Es geht um Persönlichkeit und Talent.
Ihre schärfsten Kritiker?
Meine Freunde.
Als Sie den nationalen Vorentscheid gewannen, hatten Sie auf Myspace bloss fünf Freunde. Das ist gar wenig.
Myspace haben wir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufgeschaltet. Das gehen wir nun aktiver an.
Welche Wettkampftaktik haben Sie gewählt?
Natürlichkeit! Viele Konkurrenten sind künstlich zusammengestellte Formationen, die auf spektakuläre Show-Effekte setzen. Wir hingegen präsentieren uns reduziert, ohne wahnsinnige Lichteffekte oder Dutzende von Background-Tänzern. Auch werde ich mich nicht halb nackt auf die Bühne stellen.
Sex sells …
Klar zieht die Masche. Sexy zu sein, ist etwas Herrliches – aber besser abseits der Bühne. Letztlich soll unsere Musik zählen, sollen die Stimme und der Song gefallen. Und nicht mein kurzes Jüpli.