Eine Birkin-Bag von Hermès war der Auslöser für Fiona Bollags Bestseller «Das Mädchen, das aus der Stille kam». Die 28-Jährige, die gehörlos geboren wurde und dank zwei Cochlea-Implantaten (CI) hören lernte, schrieb ihr Schicksal auf. «If you can dream it, you can do it» lautet ihr Lebensmotto, das auch andere motivieren soll. Ihr Buch ist mittlerweile in der zweiten Taschenbuch-Auflage erhältlich.
Schweizer Illustrierte Style: Sie lauschen besonders gern dem Zwitschern der Vögel. Auf das haben Sie jahrelang verzichten müssen.
Fiona Bollag: Das Zwitschern war eines der ersten angenehmen Geräusche, die ich wahrnahm, nachdem man mir ein Cochlea-Implantat eingesetzt hatte. Kaum zu ertragen sind Baulärm und Babygeschrei. Obwohl ich mich langsam daran gewöhne – bei vier kleinen Nichten und einem Neffen …
Wie lernten Sie hören?
Meine ersten Hörgeräte bekam ich mit elf Monaten. Danach begann eine spezielle Therapie, bei der mir Worte so lange vorgesprochen oder auf Kassetten vorgespielt wurden, bis ich sie nachplapperte. Meine Therapeutin hat mir zu den Wörtern die passenden Bilder gezeigt und die Buchstaben aufgeschrieben. Kein Wunder, konnte ich mit vier Jahren lesen. Verstanden habe ich es allerdings noch nicht. Mit Hörgeräten klingt alles leiser und undeutlich. Es braucht Disziplin und Geduld, um sprechen zu lernen. Das erste Implantat bekam ich mit 16, das zweite mit 21. Nun kann ich Geräusche klarer identifizieren und auch die Richtung, aus der sie kommen. Ich lernte, wie Gläserklirren, Wassertropfen oder Blätterrauschen klingt.
Sie hätten die Gebärdensprache erlernen können.
Das wollten meine Eltern nicht. Ich wuchs unter Hörenden auf und sollte mit ihnen kommunizieren können.
Was war das Schwierigste an der Stille?
Blindheit trennt dich von Dingen, Gehörlosigkeit von Menschen. Zudem: Die Jahre als Teenager waren hart.
2006 veröffentlichten Sie Ihre Lebensgeschichte: Was hat sich seither geändert? Ich war plötzlich «berühmt». Die Frankfurter Buchmesse, an der ich das Buch vorstellte, war ein Höhepunkt. Ich lernte Autoren wie Ken Follett kennen und gab drei Tage lang Interviews. In meinem Buch geht es darum, optimistisch zu bleiben. Ich wollte den Menschen beweisen: Wir Gehörlosen sind auch normal und können alles schaffen. Ich habe das Gefühl, vielen Leuten etwas gegeben, Mut gemacht zu haben.
Setzen Sie Ihre Popularität für Hilfsprojekte ein?
In New York gehe ich an Benefizveranstaltungen. Ich gehöre zum Komitee des Children’s Hearing Institute. Wir sammeln für Kinder, die sich kein Cochlea-Implantat leisten können. In der Schweiz übernimmt ja die Krankenkasse 30 000 Franken für die Operation und 35 000 Franken fürs Implantat. In den USA muss man das oft selbst bezahlen.
Was gönnten Sie sich vom ersten Buchhonorar?
Eine Birkin-Bag von Hermès in Dunkelbraun. Ich nahm dafür neun Monate Warteliste in Kauf. Schliesslich hat eine Birkin-Bag mein Leben verändert …
… weil Sie das deutsche Magazin «Glamour» darauf hinwiesen, eine Kelly-Bag mit einer Birkin-Bag verwechselt zu haben. Ein Reporter, Peter Hummel, wurde auf Sie aufmerksam und schlug vor, Ihr Leben aufzuzeichnen.
Genau! Als glühende Fashionista konnte ich es nicht fassen, dass einem Modemagazin ein derartiger Fehler unterlief. So lernten wir uns kennen. Peter Hummel interviewte mich. Ein Jahr darauf kam das Angebot vom Verlag.
Was tragen Sie in Ihrer Tasche?
US-Blackberry, Schweizer Handy, eine Agenda von Moleskine, etwas Make-up, Portemonnaie, Brille, Schirm und eine Hülle aus Plastik für die Birkin, zum Schutz, falls es regnet.
Half Ihnen Mode in schweren Zeiten?
Ja. 2008 musste ich notfallmässig operiert werden, etwas mit dem CI stimmte nicht, es bestand Infektionsgefahr. Ich war so frustriert, dass ich mir eine Chanel-Tasche in Bleu métallisé leistete. Frustkäufe helfen (lacht).
Wie gross ist Ihr Kleiderschrank?
In New York, wo ich wohne, habe ich einen extrabreiten Kleiderschrank und zusätzlich einen schmaleren für Pullis und Shirts. In Zürich füllt meine Garderobe zweieinhalb Schränke. Ich kann nichts weggeben, kombiniere gern Vintage-Mode mit neuen Stücken sowie Preiswertes mit teuren Labels.
Im Dezember schlossen Sie Ihr Studium in Fashion Marketing ab. Wollen Sie mit Mode Geld verdienen?
Ja, gern. Am liebsten würde ich mich als Stylistin oder Personal Shopper selbstständig machen.
In den USA sind die Rechte Gehörloser grosszügig geregelt. Hinkt die Schweiz da hinterher?
Ich finde schon. In Washington gibt es sogar eine Universität für Gehörlose. An der Parsons The New School of Design, an der ich studierte, kümmert sich das Büro für Disability Services um die Anliegen von Menschen mit Handicap. Ich bekam einen Mini-Laptop und konnte so mitlesen, was der Professor vortrug. Ein Schreiber war extra engagiert, weil ich nicht gleichzeitig hören und schreiben kann. Den Service fanden auch andere Studenten super. Sie haben bei mir gespickt (lacht). Zudem sind in Amerika alle TV-Sendungen untertitelt. Ohne Untertitel fernzusehen, erfordert sehr viel Geduld.
Mögen Sie Musik?
Sie ist keine Leidenschaft von mir. Radio höre ich nie, lieber schaue ich TV. An Popkonzerte gehe ich manchmal, auch in die Oper. Kürzlich war ich in «Lucia di Lammermoor» im Lincoln Center. Der Gesang wurde mit Untertiteln übersetzt, so konnte ich der Handlung gut folgen. Beim ersten Besuch einer Oper, «La Bohème» in Wien, war ich glatt eingeschlafen.
Sie sprechen von Ihrer Gehörlosigkeit als Handicap und mögen die Bezeichnung «behindert» nicht. Warum?
Weil ich mich nicht behindert fühle! Ich höre bloss schlecht.
Was tun Sie, wenn man Ihnen Mitleid entgegenbringt?
Das passiert eigentlich nie – oder vielleicht merke ich es nicht? Dafür bin ich eine zu starke, positive Persönlichkeit.
Haben Sie einen Freund?
Nein, ich bin Single – und glücklich! Es hat einfach zu viel Auswahl an super Männern in New York (lacht).
Im Ernst? Sie sollten einen Ratgeber schreiben! Nirgendwo sonst suchen so viele Frauen einen Mann.
Ich denke, es kommt bestimmt auch für mich der Richtige.
Fürchten Sie, wie Männer auf Ihr Handicap reagieren?
Überhaupt nicht. Wenn einer mit mir ausgeht, setze ich voraus, dass er mich mag und so akzeptiert, wie ich bin.
Wie sollte Ihr Partner sein?
Er muss natürlich jüdisch sein wie ich. Ausserdem intelligent, charmant und gut aussehend.
Ist Ihre Gehörlosigkeit erblich?
Nein.
Sie kamen drei Monate zu früh zur Welt. War Ihr Gehörsinn nicht vollständig ausgebildet?
Das war laut den Ärzten der Grund, ja. Man hat es aber erst später erkannt.
Als Sie elf Monate zählten, blies Ihr Vater neben Ihrem Bettchen ein Posthorn, und Sie reagierten nicht.
Ja, das war ein Schock für meine Eltern – eine Herausforderung. Es hat ihr Leben verändert. Heute wird das Gehör bei Frühgeburten routinemässig kontrolliert.
Half Ihnen Ihr Glaube, Ihr Schicksal zu meistern?
Sicher half mir mein Glaube und hilft mir noch immer. Der liebe Gott hat mir etwas weggenommen – mein Gehör. Doch er hat mir viel gegeben. Mein Kindertraum, eine erfolgreiche Modedesignerin zu werden, blieb zwar unerfüllt, dafür wurde ich durch mein Buch berühmt.
Was liegt auf Ihrem Nachttisch?
Modezeitschriften und Klatschhefte. Jetzt gerade «Die dunkle Seite des Mondes» und «Small World» von Martin Suter. Gern kaufe ich bei Barnes & Noble oder Orell Füssli die neuen Bestseller.
Sie haben bis zu Ihrem 16. Geburtstag mit der Operation gewartet, weil Sie sich nicht den halben Kopf kahl scheren lassen wollten.
Als junges Mädchen ist das Aussehen halt super wichtig. Ich wollte unbedingt schöne lange Haare. Heute sehe ich die Wertigkeiten anders.
Flüchten Sie manchmal in die absolute Stille?
Ja, manchmal schon. Wenn das Flugzeug startet oder landet, beim Lernen in der Bibliothek oder beim Schlafen. Zudem beim Baden und Schwimmen.